Ob Kinderlosigkeit, Krankheit oder Scheidung – wenn Lebensträume platzen, schwankt der Boden. Birgit Schilling macht Mut, dennoch weiterzugehen.
Wie lange hatte ich als junge Frau nach einem christlichen Buch zum Thema der ungewollten Kinderlosigkeit gesucht. Wie froh war ich gewesen, als ich endlich eines in Händen hielt. Doch als ich die ersten Seiten aufschlug, war ich fassungslos. Dort schrieb der Autor, Arzt für Frauenheilkunde: Dieses Buch ist meiner Frau Sabine gewidmet, die mir aus Gottes Gnaden sechs gesunde Kinder geschenkt hat.
Ich hätte schreien können. Wie bitte? Da schreibt jemand ein Buch, wie man die Kinderlosigkeit verarbeiten kann und dankt seiner Frau für seine sechs gesunden Kinder? Ja, hat der noch alle Tassen im Schrank? Das ist ja so, als schriebe ich ein Buch zum Thema: Wie ich als blinder Mensch leben kann und im Vorwort steht: Ich danke Gott für meine gesunden Augen.
Das ganze Buch war durchdrungen von dem Unterton: Gott wird sich schon was dabei gedacht haben, dass du keine Kinder bekommst. Also: Nimm das gefälligst an! Du musst deinen Traum, ein Kind zu bekommen, loslassen! Versündige dich nicht an Gott, indem du haderst!
Ich schrieb einen empörten Brief an den Verlag und gelobte das eine: Sollte ich kinderlos bleiben und dennoch nicht in Depressionen versinken, würde ich ein Buch dazu schreiben. Und zwar ein Buch aus der Sicht einer betroffenen Frau, die unter der Kinderlosigkeit so unglaublich litt, die dadurch in eine tiefe Glaubenskrise rutschte und die diesen Traum über Jahre nicht loslassen konnte.
Wenn der Boden wankt
Vielleicht sind Sie gerade selbst in einer notvollen Situation. Sie haben vor Jahren oder Jahrzehnten vor dem Traualtar Ihr „Ja-Wort“ gegeben und natürlich damit gerechnet, dass Sie das ganze Leben mit Ihrem Mann teilen werden. Doch eines Tages stand Ihr Mann vor Ihnen und sagte: Ich habe eine Geliebte und will ich mich scheiden lassen.
Oder Sie saßen beim Frauenarzt und hörten die Sätze: Der Gewebebefund ist bösartig. Es ist Brustkrebs.
Oder Ihr 44. Geburtstag steht an und Sie ahnen: Selbst wenn Sie einen neuen Partner kennenlernen … die Chance, noch Mutter zu werden, ist verschwindend klein. Vermutlich werden Sie keine eigenen Kinder mehr bekommen. Und dabei war es immer Ihr Lebenstraum gewesen, Mutter vieler Kinder zu sein.
Wenn uns bewusst wird, dass Lebensträume scheitern oder sich nicht mehr erfüllen, wenn unser Leben durch Krankheit bedroht wird, dann wankt unter uns der Boden. Nichts ist mehr wie vorher. Wir sind in einer Lebenskrise aus der es keinen schnellen Ausweg gibt. Auch für uns als Christinnen nicht.
Und nun ist es schwierig, den Artikel weiterzuschreiben, weil ich nicht im Gespräch mit Ihnen bin und wir nicht gemeinsam schauen können, welche Worte Sie heute auf Ihrem Lebensweg unterstützen könnten.
Jesus hat Menschen, die in Krisen waren, auch keinmal dasselbe gesagt. Dem einen stellte er eine Frage („Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Mk. 10, 51), den Nächsten ermutigte er („Meine Tochter, geh hin in Frieden!“ Lk. 8 48), den Nächsten forderte er inmitten der Krise heraus („Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ Mt. 11,6).
Dem einen sagte er: „Folge mir nach!“ (Mk. 2,14) und dem anderen: „Nein, folge mir nicht, sondern gehe wieder heim und sage, wie große Dinge Gott an dir getan hat“ (nach Lk. 8,39). Es gab und es gibt keinen Rat und kein Rezept, das zu jeder Zeit und für jede von uns passend und hilfreich ist.
Geplatzte Lebensträume loslassen lernen … ja, das ist der Weg ins Leben. Doch diese Wahrheit: „Du musst deinen Lebenstraum loslassen!“ darf mir keiner ungefragt ins Leben sprechen. Das wird von unserem Herzen – zu Recht – als Anmaßung empfunden.
Im Gespräch mit Gott
Die Lebensweisheit, dass Lebensträume, die sich nicht erfüllen, uns zum Gefängnis werden können und dass es der Weg ins Leben ist, diese Loszulassen, muss uns ganz persönlich auf unserem eigenen Weg, auf meiner Weg-Suche mit Gott, geschenkt werden. Der Weg, den ich gehe, muss sich von innen her im Gespräch mit Gott entwickeln.
Spüren Sie bei den folgenden Hinweisen deshalb gut auf Ihr eigenes Herz und gehen Sie nur den Weg mit, bei dem Sie eine innere Willigkeit, eine Hoffnung, einen Trost verspüren. Denn das ist das Kennzeichen des Heilige Geistes: Trost, Hoffnung, Sehnsucht nach Heilung. Der Heilige Geist kommt nicht mit dem Hammer und er faltet uns auch nicht zusammen. Sondern der Lebensspender zieht uns ins getröstete Leben. Er macht dies auf seine Art, die gleichzeitig unserer eigenen Art zutiefst entspricht: Ganz individuell und zu seiner Kairos-Zeit, und das bedeutet, zum passenden, richtigen Zeitpunkt.
Ein Weg zurück ins Leben
Wie könnte ein Weg ins Leben aussehen? Womit habe ich selbst in meinem Leben, auch in der Auseinandersetzung mit der Kinderlosigkeit und in anderen Lebenskrisen, gute Erfahrungen gemacht? Der erste Schritt heißt:
1. Wahrnehmen
Lassen Sie Ihre Gefühle, Stimmungen, Gedanken ohne Zensur und so ungeordnet, wie sie sind, zu Bewusstsein kommen. Alles, was in der Tiefe unseres Seins da ist, darf da sein: Unsere Fassungslosigkeit, unsere Wut und Empörung, Trauer und Depression.
Unternehmen Sie einen Spaziergang in der Natur und sprechen Sie laut das aus, was Sie in sich an Emotionen wahrnehmen. Oder schreiben Sie Ihre Gefühle und Gedanken in ein Tagebuch. Probieren Sie aus, ob es Ihnen hilft, diese Eintragung als Brief an Gott zu schreiben: „Jesus, das hätte ich dir längst schon mal zum Thema sagen wollen: …“ Und dann sprechen Sie sich aus. Eher etwas übertrieben als gebremst. Haben Sie keine Sorge, ob Sie das dürfen. Sie dürfen. Denn Sie sind ein Kind Gottes und Kinder dürfen vor ihren Eltern ehrlich sein.
2. Annehmen und Aushalten
Lassen Sie das, was Sie in sich wahrnehmen, wahr sein. Erkennen Sie an: Ja, so ist es. So und nicht anders. Das bedeutet nicht, dass Sie das, was Sie wahrnehmen, gut finden müssen. Nein, in Krisen kommen Gefühle und Gedanken zutage, die uns so gar nicht gefallen und erst Recht nicht zu unserem Selbstbild und Ideal-Ich passen. Tatsache aber ist: Sie sind da! Ob uns das gefällt oder nicht. Und weil sie da sind, üben wir uns darin, sie anzunehmen und nicht zu verdrängen. Denn wenn wir sie verdrängen, sind sie ja nicht weniger da, sondern wirken umso mächtiger im Untergrund weiter.
Jesu Anliegen war es oft, die Jünger und Pharisäer dahin zu bringen, den Zustand ihres tatsächlichen Herzens anzuerkennen, wahr sein zu lassen, was ihnen – wie ja uns auch – enorm schwer gefallen ist.
Ich stelle mich also zu meiner aktuellen Wirklichkeit. Ja, so ist es.
In Krisen ist es uns oft nicht möglich, das Loslassen selbst zu bewirken. Ja, wie soll ich denn gerade das Loslassen, was ich doch so sehnlichst und zutiefst haben will? Und selbst wenn ich ausspreche: „Ich lasse es los“, wie tief reicht dieses Lippenbekenntnis? Erreicht es wirklich die Tiefen meines Seins? Und wie lange hält es? Fünf Minuten oder eine Stunde?
3. Mich Gott überlassen
Es erscheint mir viel ehrlicher und aussichtsreicher das zu tun, was der Hauptmann von Kapernaum tat: Er sagte: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben. Herr, ich vertraue, hilf meinem Un-Vertrauen. Herr, ich will loslassen und schaffe es doch nicht.“ Und dennoch: Ich überlasse mich dir mit all dem, was ich wahrgenommen und ausgehalten habe: Meinem Trotz, meiner Angst, meiner Traurigkeit und meinem absoluten Unvermögen mir vorzustellen, ohne … ein Kind, ohne eine Heilung, ohne meinen Ex-Mann, ohne die Lösung meines Problems – weiterzuleben.
Ich trete sozusagen in eine Überlassungs-Bewegung ein. Dir, oh Gott überlasse ich mich – komplett. Und das vielleicht im Stundentakt. Immer wieder, wenn ich merke, dass sich der Widerstand gegen die aktuelle Situation meldet. Dann wende ich mich Gott zu und bete: „Gott, du bist mein Gott! Dich suche ich. Wie ein Durstiger, der nach Wasser lechzt, so verlangt meine Seele nach dir. Aus einem trockenen, dürren Land, wo kein Wasser mehr gibt … So viele Male hast du mir doch schon geholfen … von ganzem Herzen hänge ich an dir und deine Hand hält mich fest.“ Aus Psalm 63.
Es kann sein, dass so ein „mich-zu-Gott-hinwenden-Gebet“ in großer Ehrlichkeit tief berührt und dass ich im Aussprechen dieser Worte zweierlei spüre: Da ist zum einen der Schmerz, die tiefe Traurigkeit über den unerfüllten Wunsch, und doch fließt mir gleichzeitig in diesem Beziehungsgeschehen zu meinem Papa im Himmel Trost, ja Frieden zu. Ein Friede, der höher ist als alle Vernunft (Phil. 4,6). Beides: Schmerz und Frieden ist gleichzeitig da. Vielleicht fließen bei mir auch Tränen. Ich durchlebe einen Trauerprozess und kann vielleicht erahnen, dass bei und mit Gott, trotz allem alles gut werden wird und dass dereinst der Trost größer sein wird als die Not.
4. Offenheit
Ich lege Gott also nicht fest wie genau er mein Gebet erhört, sondern überlasse ihm das. Nun halte ich Ausschau wie auf einem Aussichtsturm in alle Richtungen, wie Gott mein Gebet erhört und was er mir an Gutem schenkt.
Vielleicht ist es die Kraft, die für den einen Tag reicht. Oder der Anruf der Freundin, die ich schon lange nicht mehr gesprochen habe. Die Losung des Tages, die Trost-Tränen in mir auslöst. Der Friede, der die letzten Stunden im Herzen spürbar war.
Schweres und Schönes
In emotional aufwühlenden Krisen hatten wir den Eindruck, dass unser Leben nur noch aus dem einen Thema besteht. Nun bemerken wir plötzlich, dass es neben dem Notvollen und Schweren auch noch Schönes im Leben gibt. Wir nehmen wieder rechts und links von der Not das Helle und Beglückende wahr. Wir bemerken plötzlich, dass wir eben wieder mal gelacht haben. Dass uns der Roman gefesselt hat. Die Musik erfreut. Dass wir wieder Pläne für den nächsten Urlaub schmieden. Uns mit der Freundin verabreden. Ein gutes Essen kochen. Ja, dass wir ein wenig „Fülle des Lebens“ erleben.
Wie gut ist es, sich in solchen Zeiten von einem Geistlichen Begleiter oder einer Seelsorgerin begleiten zu lassen. Wir Menschen können uns nicht selbst trösten, sondern Trost muss uns von außen zugesprochen werden. Von Gott selbst und oft auch durch eine Schwester, einen Bruder. Der Christus im Bruder ist stärker als der Christus in mir, sagte Dietrich Bonhoeffer.
In einer Lebenskrise, die ich – lösungsorientiert, wie ich lange war und immer noch bin, nicht schnell lösen und auch nicht loslassen konnte – schrieb mir eine Freundin dieses Zitat von Rainer Maria Rilke: „… und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden, weil Sie sie nicht leben könnten.
Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen.
Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“
Und so war es.
Möge Jesus Sie in Ihrem eigenen Prozess begleiten. Er sagt uns allen zu: „Ich will dich trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Jesaja 66,13