„Das hat mich damals sehr verletzt, Mama!“
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Als unsere drei Kinder zu uns in die Familie kamen, erfüllte mich ein inneres Ziel: „Meine Kinder sollen bei uns nur Heilsames und Gutes erfahren! Ich will als Mutter mein Bestes geben!“ Schon im Babyalter unserer Kinder lasen mein Mann und ich ein Erziehungsbuch nach dem anderen. Gemeinsam besuchten wir Team.F-Seminare rund um das Familienleben. Ich versuchte, eine möglichst perfekte Mutter zu werden und war verzweifelt, wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurde, was ja regelmäßig der Fall war.
Und dann, 20 Jahre später, sagte eines unserer Kinder plötzlich während eines gemütlichen Urlaubs-Frühstücks: „Mama, das fand ich früher echt doof von dir … Das hat mich damals so unter Druck gesetzt. Das war nicht in Ordnung und das auch nicht …“ Ich saß da und meine erste Reaktion war völliger Schock. Meine Gedanken fuhren Karussell: „Das stimmt doch gar nicht! Ich will das gar nicht hören!“ Und: „Ja, aber … Du sieht das völlig einseitig … Das muss ich dir dazu noch erklären …“
Nicht ins Erklären flüchten
Wenn wir Eltern mit solchen kritischen Kommentaren konfrontiert werden, stehen wir in der Gefahr, uns von unseren Gedanken der Abwehr leiten zu lassen und ins Erklären zu flüchten. Wir richten Appelle an das Verständnis des Kindes. Letztlich leitet uns der Wunsch, von dem Kind mit so etwas verschont zu werden.
Der Weg ins Leben geht jedoch in eine andere Richtung. Nämlich ins Innehalten und Nicht-Reagieren. Wir dürfen uns bewusstmachen, dass es jetzt gerade nicht um meinen Wert als Mutter oder Vater geht, um meinen Erfolg oder mein Versagen, sondern um mein Kind. Wir dürfen uns vor Augen malen, dass das keine Katastrophe, sondern im Gegenteil eine „Sternstunde“ ist, eine Zeit, die ein tiefes Geschenk an unser Kind werden kann.
Warum ist das so? Wir können unserem Kind bei etwas ganz Kostbarem helfen, nämlich sich selbst mit seinen inneren Nöten ernst zu nehmen und eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen. Dafür müssen wir diese „Anklage“ stehen lassen. Wenn wir dem Kind zuhören, anteilnehmend und ohne innere Abwehr, „validieren“ wir das Kind. Wir sagen damit: „Mein Kind: Du hast das richtig gespürt! Du darfst dir und deinen Empfindungen vertrauen. Ich stelle dein Gefühl, dein Erleben nicht infrage. Das, was du sagst, hat seine Berechtigung.“ Die eigenen inneren Impulse wahrnehmen und ihnen vertrauen – was für ein Geschenk für das Leben ist das doch! Viele von uns brauchen lange Therapien, um sich in dieser Weise auf die Spur zu kommen.
Und ein zweites Geschenk machen wir dem Kind: Wir unterstützen es, seine eigene Biographie einzuordnen und zu verarbeiten. Wie kostbar ist es, die eigene Geschichte nicht nur mit einem Therapeuten zu klären und zu verarbeiten, sondern mit den eigenen Eltern. Wer von uns konnte das mit seinen eigenen Eltern so tun? Als Beraterin weiß ich, dass es erwachsenen Kindern oft nicht möglich ist, mit ihren Eltern ein klärendes Gespräch über ihre Beziehung und über Verletzungen zu führen. Deshalb ist es wunderbar, wenn unsere Kinder mit uns zusammen auf ihre Verletzungsgeschichte schauen, auch wenn das für uns Eltern zunächst nicht einfach ist.
Sternstunde für die Beziehung
Und so nehmen Sie am besten bei einem entsprechenden Gespräch den emotionalen Impuls „Flucht oder Angriff“ wahr und lassen ihn auch wieder los. Atmen Sie ein und aus und versuchen, so wenig wie möglich der Panik Raum zu geben. Vergewissern Sie sich der Liebe Gottes, der uns auch dann liebt, wenn Erziehungsdefizite aufgedeckt werden. Und dann versuchen Sie, soweit es möglich ist, emotional an der Seite Ihres Kindes zu sein. Es geht jetzt in erster Linie um Ihr Kind. Vielleicht möchten Sie noch ein kurzes Stoßgebet gen Himmel senden: „Herr hilf mir!“, bevor Sie sinngemäß folgende Worte sagen: „Danke, dass du das sagst. Das berührt mich sehr. Bitte erzähl mir mehr: Was genau hat dich so verletzt? Wie bist du damit umgegangen?“
Halten Sie sich während des Gesprächs vor Augen, dass diese Zeit eine Sternstunde für Ihre Beziehung und für Ihr Kind werden kann. Allein das Ansprechen einer solchen Not ist ein Kennzeichen von tiefem Vertrauen. Wenn mein Kind mir mitteilt, was ihm früher Not gemacht hat, zeigt sich ja gerade keine Ablehnung und Verurteilung, sondern großes Vertrauen. Solche Worte werden nur ausgesprochen, wenn bei dem Kind die Zuversicht vorhanden ist, dass mit solchen Herzens-Mitteilungen gut umgegangen wird.
Versuchen Sie genau zuzuhören und wahrzunehmen, was Ihr Kind heute bewegt und was es wohl damals erlebt oder erlitten hat. Wenn Sie „ganz Ohr“ sind, wird sich bei Ihnen eine Betroffenheit für das Kind einstellen und die dürfen Sie auch authentisch aussprechen: „Da hast du dich ja total überfordert/abgelehnt, nicht ernst genommen/nicht beschützt … gefühlt.“ Und dann können Sie auch formulieren: „Es tut mir so leid, dass du an dieser Stelle gelitten hast!“
Nun kann Raum sein für Tränen und Stille und vielleicht auch eine Umarmung. Versuchen Sie, die dichte Atmosphäre, die sich nun einstellt, auszuhalten. Das fällt uns in der Regel schwer und wir sind in Gefahr, uns in viele Worte zu flüchten. Doch Worte bringen uns und das Kind wieder weg von unseren tiefen Gefühlen. Vermeiden Sie in dieser Situation jedwede Erklärungen, so schwer es Ihnen fällt. Zum jetzigen Zeitpunkt sind Erklärungen störend und zutiefst egozentrisch. Wir sind dann nicht an der Seite des Kindes, sondern bei der Verteidigung unseres Selbstwertes.
Vermeiden Sie auch das Abrutschen in die Opferrolle. Vielleicht gab es gute Gründe für Ihr Verhalten damals. Und natürlich hat Ihr Kind gerade gar nicht im Blick, wie schwer es vielleicht war als alleinerziehende Mutter oder überforderter Vater oder weil die Kinder so schnell hintereinanderkamen oder es der Firma wirtschaftlich so schlecht ging … Unsere Klärung des Erlebten gehört nicht in das Gespräch mit unserem erwachsenen Kind, dass sich gerade mal traut zu sagen, woran es in der eigenen Kindheit gelitten hat.
Stattdessen können Sie fragen: „Gibt es sonst noch etwas, das dich belastet?“ Vielleicht passt es, zwischendrin auszusprechen: „Ich weiß, du hast mich lieb und ich habe dich auch lieb. Gerade deshalb ist es gut und richtig, dass wir jetzt darüber sprechen.“ Wenn es Teil der Familienkultur ist, miteinander zu beten, kann es hilfreich sein, das zu tun.
Nachsorge für die Eltern
Nach solchen Gesprächen fühlte ich mich erschöpft und betroffen. Ich war auf so vielen Ebenen emotional involviert. Ich brauchte nun Zeit und manchmal auch andere Menschen, dir mir halfen, das Erlebte zu verarbeiten. Für die eigene Nachsorge von solchen Gesprächen sind mir folgende Grundsätze wichtig geworden:
1. Es gibt keine perfekte Erziehung, und die braucht es auch nicht geben. Ich habe in meinem Leben Jesus als denjenigen erlebt, mit dem ich meine Belastungen aufarbeiten kann. Auch für meine Kinder ist Jesus der Heiland, der Heilende. Auch sie werden Bereiche haben, in denen sie die Heilung durch Jesus brauchen. Ich habe mein Bestes gegeben, und dennoch habe ich an der ein oder anderen Stelle meine Kinder verletzt und bin an ihnen schuldig geworden. Das ist so, und das muss ich nicht mehr bekämpfen, sondern ich kann lernen, es gelassen anzunehmen.
2. Ich darf nach solchen Gesprächen in aller Ruhe hinschauen, welche Zusammenhänge, Ursachen und Gründe ich erkenne. Und doch muss ich es nicht in der Tiefe ergründen und mich darin festbeißen. Es war so, wie es war. Das kann ich nicht mehr ändern, und ich muss es auch nicht versuchen. In einem solchen Gespräch mit einem unserer Kinder kam zutage, dass ich zu lange darauf gedrängt hatte, dass es Musikunterricht haben muss. Das Kind hatte gar keine Freude daran und hasste zunehmend den Klavier- und Flötenunterricht. Wie kam es dazu, dass ich mit einem solchen Eifer meine Kinder dazu drängte, Musikinstrumente zu spielen? Letztlich stand mein Vater dahinter, hochmusikalisch und lange Jahre Chorleiter seiner Gemeinde. Natürlich habe ich als Kind mehrere Musikinstrumente lernen müssen. Und so schien es für mich zu meinem Erziehungsauftrag zu gehören, dass alle meine Kinder mindestens ein Musikinstrument lernen müssen. Es gehört dazu, Klavier oder Geige oder Cello zu spielen, dachte ich. Erst nach mehreren Jahren konnte ich mir eingestehen, dass dieses eine Kind zwar Freude an Sport und Tanzen hatte, nicht jedoch an Musik mit dem Spielen nach Noten.
3. Ich muss vor Gott und mir und dem Kind keine Schuld bekennen, die ich nicht als Schuld ansehe. Manchmal bleiben verschiedene Sichtweisen nebeneinander stehen. Und das darf sein. Die Frage nach der einzig richtigen Wahrheit führt manchmal nicht weiter. Vielleicht müssen wir uns auch ehrlich eingestehen: Wir hätten es an dieser Stelle auch nicht „besser“ machen können. Bei aller Umsichtigkeit als Eltern werden wir es nicht schaffen, unsere Kinder umfassend vor tiefem Leid zu schützen.
4. Unser Selbstbild darf sich vom Perfektionismus verabschieden. Für mich war es letztlich ein Schritt ins Leben und in die Befreiung zu denken und zu sagen: „Ich war eine mich bemühende Mutter.“ Vieles habe ich mit Gottes Hilfe gut gemacht. Und ich habe Fehler gemacht, die mir heute leidtun. Ich habe meine Kinder mit manchen meiner eigenen Macken belastet. So ist das Leben und so darf es sein. Ich darf mich nach solch klärenden Gesprächen über die Vergangenheit dem aktuellen Leben zuwenden und mit Gottes Hilfe die heutige Beziehung zu den Kindern liebevoll gestalten.