Leben mit meinem Schatten

Wenn das Licht Gottes aus den Löchern unserer Seele scheint: Vollmacht aus Zerbrochenheit

Zitat: In die Tiefe kann ich andere nur so weit führen, wie ich selber gegangen bin.

Lesezeit: 15–20 Minuten

Falsche Ideale

Schon immer wollte ich meinen Dienst für Jesus bei Predigten oder Vorträgen gern vollmächtig tun. Doch welche Überzeugungen leiteten mich (unbewusst …) dabei?

  • Vollmächtig sein ist, kompetent zu wirken: rhetorisch gut zu reden, fachlich „fit“ zu sein. Deshalb absolvierte ich viele Fortbildungen und las Fachliteratur.
  • Vollmacht haben heißt, mitreißend und kraftvoll zu sprechen. Dazu baue ich das Ganze rhetorisch gut auf, mache steile geistliche Aussagen und baue entsprechende Storys ein.
  • Damit Gott Ehre bekommt, bringe ich von mir nur jene Beispiele, die mich als Überwinderin zeigen. Ich möchte ein attraktives Vorbild sein und Gott damit ehren. Was nicht dazu passt, hat in meinem Dienst keinen Platz.
  • Das „Wort und das Wort und das Wort“ alleine ist entscheidend. Das soll – nach Paulus (Philipper 1,15-17) gepredigt werden. Mein tatsächliches Leben als Predigerin ist dabei weniger entscheidend.

Das alles sehe ich heute anders. Ich bin unterwegs, die ganze Wahrheit über meinem Leben vor Gott, mir selber und anderen zuzulassen. Das stürzt mich immer wieder in innere Krisen. Ich bin da noch mitten drin und ahne, dass diese Krisen erst im Himmel aufhören. Wir sind wunderbare Ebenbilder Gottes, die jedoch immer auch Zerbrochenheit in sich tragen. Die Frage ist nicht, ob es so ist, sondern ob wir uns dazu stellen können oder die Zerbrochenheit verdrängen. Überrascht hat mich, dass gerade meine Zerbrochenheit ein Einfallstor für das kraftvolle Wirken Gottes ist.

Entdeckung in Filz

Zu Beginn 2012 nahm ich an Stille-Tagen teil. An einem Abend saß ich – von der neuen Jahreslosung angestoßen („Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ 2. Korinther 12,9) – vor Material zur Gestaltung von inneren Prozessen. Nach der üblichen Schreckminute (Hilfe, so was kann ich nicht! Ich bin nicht kreativ!), gestaltete ich „mich“ mit Filzwolle: meine Stärken/Teile, die ich an mir mag, in leuchtendem Rot/Orange und meine Schwächen/Teile, die ich nicht mag, in langweiligem Braun/Schwarz. Danach ließ ich das Ganze auf mich wirken und dachte frustriert: „Wie schrecklich das aussieht: dieses Braun-Schwarz! Das will ich nicht haben: diese Schwächen und Wunden! Scheußlich!“ Mein jahrzehntelanges Dilemma lag sichtbar vor Augen – meine schwankenden Gemütszustände oder meine eher chaotische Grundstruktur und Verpeiltheit. Wie oft hatte ich schon gebetet: „Herr, nimm das doch bitte weg, damit ich dir vollmächtiger dienen kann! Auch du, Jesus, hättest doch was davon!“

Tag für Tag saß ich während der Andachten frustriert vor dieser Gestaltung. Immer und immer wieder las ich den Text aus 2. Korinther 12,1-10. Dann stutzte ich über die Übertragung von Eugene Peterson in „The message“: Wie nannte er diese Schwächen? „The gift of a handicap“! Das Geschenk einer Behinderung!

Das Wort Behinderung fand ich sehr treffend. Genau – so fühlte ich mich: behindert! Wie mit einem Defekt versehen, den ich nicht loswerde und der mich dazu bringt, es zu verstecken. Über die Bezeichnung „Geschenk“ war ich fassungslos.

Dann saß ich erneut vor dieser Gestaltung. Ich hatte drei glitzernde Glassteine in der Hand und wollte sie eigentlich auf meine Stärken legen. Ich wollte damit ausdrücken, dass ich Jesus mit meinen Stärken ehren wollte. Doch dann folgte ich einem sonderbaren Impuls: Ich legte die Glassteine nicht auf meine Stärken, sondern auf meine Schwächen, meine Behinderungen und Wunden.

Und dann wurde es still in mir. Ich saß davor und spürte, wie tiefer Trost von Jesus her in mein Herz einzog. Tränen rollten mir die Wangen hinunter. Ja, es darf sein. Ich darf sein. All das, wessen ich mich manchmal schäme, und was ich vor anderen, mir selber und Gott verstecke: es darf sein. Ich muss nichts mehr wegdrücken oder weg beten. Und es darf auch für und in meinem Dienst sein.

Wunden als Trophäen

Es scheint so zu sein, dass Jesus diese Mischung aus Stärken und Schwächen und Behinderungen für die passendste für mich als Mensch, als Jesusnachfolgerin und sogar als Verkündigerin und Beraterin hält. Und wenn Gott es so sieht, dann kann ich auch selber darüber ruhig werden und mit Paulus beten: „Sobald ich das gehört hatte, ließ ich es gern geschehen. Ich hörte auf, mich auf meine Behinderung zu konzentrieren, und begann stattdessen, das Geschenk wertzuschätzen. Die Kraft Christi wirkt in meiner Schwachheit. Nun kann ich diese Einschränkungen locker nehmen und mich sogar darüber freuen. Diese Einschränkungen haben mein Ego, mein falsches Selbst, beschnitten. Jetzt überlasse ich einfach Christus die Kontrolle.“(2. Korinther 12,9-10; übersetzt nach „The Message“ von Eugene Peterson)

Warum nimmt Jesus uns die Behinderungen nicht weg? Weil sie zu uns und unserem Leben gehören und weil sie zu ehren sind. Manche unserer Behinderungen haben mit Wunden unserer Kindheit zu tun. Keiner von uns hat bei der Verteilung von Wunden in unserer Kindheit: „Hier, ich! Das will ich haben!“ geschrien. Sie sind an uns geschehen und wir haben gelitten. Das dürfen wir anerkennen und würdigen. Jesus will uns darin trösten und hat Erbarmen mit uns und auch wir dürfen uns selber gegenüber Erbarmen entwickeln.

Es ist eine Illusion unseres Egos, nur noch stark durchs Leben gehen zu wollen und aus uns selbst heraus stark zu sein. Zu unserem wahren Selbst – zu dem, der wir wirklich in Christus sind – gehören unsere Wunden. Julian of Norwich, ein englischer Mystiker, sagte: „Unsere Wunden sind unsere Trophäen!” Sie seien “das Loch in der Seele” durch die das Licht Gottes, der in uns lebt, herausscheint.

Wirkkraft für Herzen

Wo habe ich das schon erlebt? 2005 erzählte Gordon MacDonald auf einem Leitungskongress über ein persönliches Versagen. Während er erzählte, spürte man Gordon seine persönliche Erschütterung über diese Begebenheit ab. Doch dann erzählte er, wie er in dieser Begebenheit Gott erfahren hatte. Gordon war seine Botschaft. Aus jeder Pore seines Seins konnten wir Zuhörer Gottes Gnade spüren und … wir alle, Tausende von Menschen, waren in diesem Moment einerseits bei Gordon und seinem Erleben und doch gleichzeitig bei unseren eigenen Wunden und Versagensmomenten. In diesem Moment flossen Trost und Zuversicht in unsere eigenen Herzen, die Hoffnung, dass Jesus, der in Gordon so kraftvoll hatte wirken können, es auch in unserem Leben tun würde.

Und genau das ist doch Vollmacht: Es ist die Wirkkraft des Heiligen Geistes, so dass Jesus im Herzen eines anderen ankommt und kraftvoll wirkt. Können wir etwas dafür tun? Können wir das fördern? Das Zusammenkommen von Gottes und meinem Wirken bleibt ein Geheimnis im geistlichen Leben. Letztlich geht alles Wirken von Gott aus – und dennoch sind wir darin nicht unbeteiligt. Wir können den Weg zu Vollmacht bereiten oder blockieren. Aber Vollmacht machen können wir nicht. Es bleibt unverfügbar Gottes Wirken.

Meine Beobachtungen sind folgende: Ich kann über alles Mögliche predigen und anderen raten. Doch in die Tiefe kann ich andere nur so weit führen, wie ich selber gegangen bin. Mein tatsächliches Leben mit Jesus ist die Grundlage meines Dienstes. Mein gesamtes Sein wirkt in alles hinein, was ich tue. Ständig.

Das könnte mich nun enorm unter Druck setzen, aber es kann mich vielmehr total entlasten. Ich kann und darf mit meinem tatsächlichen Leben einfach vor Jesus sein. Ihm die Baustellen anbefehlen, die ich habe, meine drei Schritte vor und zwei oder auch mal vier zurück. Da sein, wo ich tatsächlich auch bin. Wir werden das, was wir suchen – nicht das, was wir sein wollen. Und so kann ich Suchende bleiben und Gott bitten, mich von innen her zu verwandeln. Und das wird nach außen wirken. Von selber. Von innen.

Mit allem Drum und Dran

Heute habe ich verstanden und will es immer mehr einüben: Ich kann mich zu meinen Wunden, Behinderungen, Schwächen und Grenzen stellen. Zunächst einmal vor Gott. Ich lasse es zu, eine Hinkende zu sein, so wie Jakob als Hinkender aus der Begegnung mit Gott kam. Diese Identität zuzulassen, ist mir enorm schwer gefallen. Sie stand diametral dem entgegen, wozu ich meinte, von Gott gerufen zu sein: nämlich mit zunehmender Heiligung immer stärker, besser und unabhängiger zu werden.

Im wärmenden Schutz der Liebe Gottes wage ich es, meine Täuschung über mich loszulassen und die zu sein, die ich wirklich bin: Geliebte Gottes. Ich lerne es, mich in meiner Gemeinschaft, vor meinen Freunden, in meinen Beziehungen, auf diese Weise „ganz“ zu zeigen. Mit meinen Stärken – mit meinen Behinderungen.

Von Jesus lesen wir an vielen Stellen in den Evangelien, dass er „mit Vollmacht wirkte“. Ich sehe aber auch, dass Jesu Vollmacht nicht Applaus bei allen Beteiligten auslöste, sondern nur für einen Teil der Zuhörer erfahrbar wurde: für die Kranken, Mühseligen und Behinderten. Nicht für die, die alles wussten, einsortiert hatten und die sich als die Starken sahen. Seine Vollmacht bewirkte Entsetzen bei den „Rechtgläubigen“, bei den Schriftgelehrten und Pharisäern. Bei denen jedoch, die unvoreingenommen einfach dabei waren und offen wahrnahmen, was gerade geschah, bewirkte es Erstaunen und bei Betroffenen Heilung, Vergebung, Lebensveränderung.

Wenn wir uns unserer eigenen Schwäche, Behinderungen und gemischten Motiven bewusst werden, könnten wir sehr entmutigt werden. Die Sehnsucht nach Vollmacht im Sinne einer glänzenden Makellosigkeit scheint da verständlich. Und doch geht der Weg – wie so oft bei Jesus – genau gegen unsere instinktive Neigung: Anstatt uns aufzupimpen, aufzuplustern, geht es ins Loslassen. Darum, uns ihm im Vertrauen auf seine Kraft und sein Wirken zu überlassen. Ich bin berufen, „ganz“ zu sein. So wie Abraham aufgefordert wurde: „Wandle vor mir und sei ganz!“ (1. Mose 17,1b). Und als diese ganze Person, mit allem, was zu mir gehört, bin ich da. Auch in einer Predigt, bei einem Vortrag, in einem Dienst.

Mich ihm überlassen

Vollmacht sehe ich heute weniger in einem bestimmten Stil, in Kompetenz oder einem Wirken-Wollen, sondern eher umgekehrt: im Loslassen und mich Gott überlassen. Schon in der Vorbereitung strebe ich danach, mich Gott zu überlassen: „Hier ist meine (begrenzte!) Zeit, meine (begrenzte!) Kompetenz und (begrenzte!) Kraft. Mehr habe ich nicht. Mach du was draus!“ Ich darf verwegen mit meinem Gott Klartext sprechen, mich ihm überlassen, anstatt mich unter Erfolgsdruck zu setzen. Ich stelle mich zu meiner Grenze und erwarte, dass Gott meine wenigen „Brote und Fische“ nimmt, um daraus etwas Wundersames zu machen, das anderen dient. Oft kommt etwas Normales dabei heraus – und das darf sein.

Doch manchmal – von mir nicht zu planen und zu beabsichtigen – stellt sich der Heilige Geist in einem solchen Maße dazu, dass mir die Spucke weg bleibt und ich selber währenddessen spüre: Das hier bin nicht ich! Hier wirkt gerade Jesus durch mich. Ich spüre, dass ich tief mit Gott verbunden bin und dass der Heilige Geist in mir und den Zuhörenden wirkt, wie ich(!) es nie hätte planen oder machen oder bewirken können. Auch wiederholbar ist es nicht – trotz Vorbereitung und der Absicht, es gut zu machen.

Ich kann hier keine Gesetzmäßigkeiten ableiten – zumindest keine, die immer gelten. Generell beobachte ich: Da, wo Gott es mir schenkt, dass ich ganz aus dem inneren Gehaltensein in Jesus vorne stehe, alles „Wirkenwollen“ loslasse, wenn ich „es fließen lasse“, einfach in meinem So-Sein, mit der Vorbereitung, die mir möglich war, mit Freude, präsent, die Aufmerksamkeit bei Gott und bei den anderen, mich selbst vergessend – dann scheint der Heilige Geist gerne zu wirken. Aber auch diese Haltung ist für mich ein unverfügbares Geschenk und von mir nicht zu produzieren. Die demütige Gebetszeile von Gerhardt Tersteegen ist mein Gebet: „Lass mich … dich wirken lassen.“

So werden wir frei, wir selbst zu sein. Wir tragen nicht mehr die Last, Vollmacht bewirken zu müssen. Wir zwängen uns nicht mehr in ein „Ich-muss-toll-sein“-Korsett, das uns den Atem abschnürt. Wir erfahren die Wirklichkeit dessen, was Paulus so treffend beschreibt: „Denn derselbe Gott, der gesagt hat: Aus der Finsternis soll Licht hervorstrahlen, der ist jetzt selber in unserem Herzen das Licht … Wir haben diesen kostbaren Schatz allerdings in irdenen, zerbrechlichen Gefäßen, denn es soll deutlich werden, dass die alles überragende Kraft, die in unserem Leben wirksam ist, Gottes Kraft ist und nicht aus uns selbst kommt.“