„Eigentlich geht es mir gut …“

Eigentlich haben wir viel Grund zur Dankbarkeit, wenn wir unser Leben anschauen. Warum fühlen wir uns trotzdem oft nicht wirklich glücklich? Woran das liegt und was wir tun können, damit es uns tatsächlich wieder gut geht, beschreibt Birgit Schilling.

Meine beiden Kolleginnen und ich sitzen in unserer üblichen Intervisionsrunde zusammen und erzählen einander zu Beginn, wie es jeder von uns so ergeht. Da fällt mir auf, dass wir alle drei mit unserem Erzählen ganz ähnlich starten: „Also eigentlich geht es mir gut…“ Und dann zählen wir einen Umstand nach dem nächsten auf, weshalb es uns „eigentlich“ gut geht. Doch die Erzählung ist nicht von einer lebendigen Freudigkeit geprägt, sondern gleicht eher einem faktischen Bericht und zwischendrin atmen wir tief durch, stöhnen und erwähnen dann eigentlich mehr Gegebenheiten, die uns belasten oder Sorgen bereiten, als die uns beglücken.

Einige Tage danach in der Beratung fällt es mir bei einem Manager auf, der auch meint, dass es ihm „eigentlich“ gut ginge. Er hätte viel Grund zur Dankbarkeit: seine gute Arbeitsstelle, das neue Eigenheim, gesunde Kinder, eine liebende Ehefrau … Grund der Beratung ist jedoch seine zunehmende Lebensschwere und Anflüge von Depression und Erschöpfung. Geht es ihm wirklich gut?

Genug Gründe dankbar zu sein

Wie ist das zu verstehen: „Eigentlich geht es mir gut“? Es bedeutet, dass ich einerseits meiner eigenen Wahrnehmung nach genug Gründe habe, um dankbar zu sein. Vieles in meinem Leben ist gut. Oder zumindest besser als bei vielen anderen Menschen auf dieser Welt.

Seit Monaten sehen wir in den Nachrichten die größten Schreckensszenarien: Der Krieg in der Ukraine. Der Terror der IS Miliz und Boko Haram. Ebola in West-Afrika. Wir sehen die vielen Menschen auf der Flucht. Ja, es herrscht zurzeit ein Riesen-Elend auf der Welt.

Da kann man doch auch nur zu dem Schluss kommen: Eigentlich geht es mir gut! Es geht mir sogar sehr gut!

Und doch fühlen wir uns nicht wirklich gut und von Dankbarkeit erfüllt. Vielleicht, weil die vielen Nöte dieser Welt, mit denen wir tagtäglich in den Nachrichten konfrontiert sind, uns belasten. Vielleicht weil in unserem eigenen Leben eben doch nicht alles in Ordnung ist – selbst wenn es besser ist, als es sein könnte und für viele Menschen ist.

Was genau steckt hinter unserem „Eigentlich geht es mir gut“? Wie kommt die Aussage zustande? Welche Zusammenhänge spielen eine Rolle? Welche Gefahr steckt in dem Ausspruch, der mich selber betrifft und der mir in Beratungsgesprächen immer wieder begegnet? Und welcher Weg ins Leben ist dahinter verborgen?

Blick von oben auf unser Leben

Wenn wir den Satz sagen: „Eigentlich geht es mir gut“, gehen wir aus unserem erlebten Selbst in unser sogenanntes konzeptualisiertes Selbst, also das beurteilende, gedachte Selbst. Es ist, als stiegen wir auf einen Hochstand und blickten von oben auf unser Leben herab. Und was sehen wir da vielleicht? Wir sehen die gemütliche Wohnung oder das Eigenheim, den Überfluss in unseren Supermärkten, Freunde oder Familie, das Leben in Friedenszeiten, die vielleicht gute Auftragslage in der Firma, die gesicherte Arbeitsstelle, die eigene Gesundheit und/oder anderes. Die Sorgen und Wehwehchen, die wir auch in unserem eigenen Leben wahrnehmen, erscheinen so gering im Vergleich zu den Nöten dieser Welt.

Doch das konzeptualisierte Selbst leitet uns nicht inmitten unseres normalen Lebens. Wir sind nämlich dann in unserem erlebenden Selbst. Wie aber ergeht es uns da?

Wie fühlen wir uns an einem ganz normalen Montagmorgen, wenn wir aufstehen? Und wenn wir durch den Tag gehen, auf der Arbeit oder zu Hause? Welche Gefühle und Gedanken sind dann vor allem in uns präsent? Ich vermute, es ist nicht der Gedanke: Es geht mir gut, sondern da sind dann auch die Gedanken: Wie werde ich dieses oder jenes Projekt rechtzeitig schaffen? Wie soll ich die To-do-Liste wohl heute abarbeiten? Wie wird die Tochter die heutige Prüfung schaffen? Wird das Geld für den geplanten Urlaub reichen? Wie gehe ich mit meinem Ärger auf die Kollegin um? Wie werde ich heute die Pflege meines Vaters bewältigen? Und so weiter.

Ein anderer Blickwinkel: Wie erleben uns die Menschen, die uns nahe stehen, die uns in unserem tatsächlichen Leben beobachten? Unser Ehepartner, unsere Freundin, die Kinder? Entspricht das, was sie da bei mir erleben, als „Mama/Birgit geht es gut“? Oder beobachten sie Stöhnen, Traurigkeit, Momente der Überforderung, schlechte Laune, Ärger, Groll?

Wie geht es uns – wirklich? Unser erlebendes Leben sieht also so völlig anders aus, als unser von oben oder von außen betrachtetes Leben.

Unser tatsächliches Leben

In einer Untersuchung wurden amerikanische Lehrerinnen, die in einem sozialen Brennpunkt arbeiteten, zu ihrem Wohlbefinden befragt. Die vorherrschende Antwort lautete: „Es geht mir gut.“ Dann erhielten eben diese Lehrerinnen einen Timer, der fünfmal am Tag klingelte. Und wenn er klingelte, sollten sie umgehend innehalten und sich fragen: Wie bin ich gestimmt? Wie geht es mir gerade – wirklich? Das Ergebnis war erstaunlich: Das tatsächliche Erleben war viel negativer, als sie dies zuvor eingeschätzt hatten.

Wir alle antworten auf die Frage, wie es uns geht, häufig mit „gut“ und meinen „normal“ – so wie ich es eben gewohnt bin. Dies hat jedoch nur wenig mit unserem tatsächlichen Erleben, wie wir es von Moment zu Moment erleben, zu tun. Das gedachte Erleben hat wenig mit dem tatsächlichen Erleben zu tun.

In einer anderen, weltweiten Studie wurde das Wohlbefinden von Menschen im Zusammenhang von ihrem Einkommen untersucht. Nach Umfragen wurde ein klarer Zusammenhang zwischen der Lebenszufriedenheit und dem Einkommen festgestellt. Je höher das Einkommen ausfällt, umso zufriedener geben die Menschen an zu sein. Wohlhabende sind der Meinung, ein vergleichsweise schönes Leben zu führen. Doch im normalen Alltag drückt sich das nicht aus. Glücksmomente hängen nur zu sechs Prozent davon ab, wie wohlhabend ein Mensch ist. Ja, es wurde sogar deutlich, dass Menschen in westlichen, reichen Ländern seltener Glücksmomente erleben als Menschen in ärmeren Ländern dieser Erde. Menschen in Industrienationen sorgen sich mehr, hängen mehr negativen Emotionen nach, sind weniger gelassen und ärgern sich mehr. Das hohe Lebenstempo, Stress und zu viele Auswahlmöglichkeiten erhöhen Ängste und Sorgen. Von daher ist das „Es muss mir im reichen Deutschland gut gehen“ auch wieder ein Stück in Frage gestellt.

Was lerne ich daraus für mich?

Worauf darf ich achten, wenn ich bei mir die „Eigentlich geht es mir gut“-Haltung wahrnehme?

Zunächst einmal möchte ich mich den Aspekten im Blick auf die Not in der Welt zuwenden.

  1. Ich kann und muss es lernen, mit offenen Fragen im Blick auf die Not und das Elend in dieser Welt zu leben.

Letztes Jahr besuchte ich mit meinem Mann, meinen Töchtern und Schwiegersöhnen das Land, in dem wir früher zwölf Jahre lang gelebt haben: Nepal. Gemeinsam unternahmen wir eine Treckingtour. In einer Treckinglogde begegnete uns Sunita, ein 12-jähriges Mädchen. Von morgens bis abends war sie fröhlich auf den Beinen und bediente uns Gäste. „Ach, das ist wohl die Tochter des Hauses“, dachten wir zunächst. Doch als ich sie ansprach, erfuhr ich, dass sie aus einem Nachbardorf kam, fünf kleinere Geschwister hat. Die Eltern konnten ihre Kinderschar nicht mehr ernähren und deshalb musste Sunita nach dem 4. Schuljahr die Schule verlassen, um seitdem für Kost und Logie in dieser Treckinglodge mitzuarbeiten. Welche Aussichten auf Veränderung hat dieses Mädchen für ihre Zukunft? Kaum eine. Sie lebt wie eine Haussklavin. Die Not dieses Mädchens rührte mich tief an. Am liebsten hätte ich sie mitgenommen. Wie unfair ist das Leben! Wieso darf ich an diesem Ende der Welt leben mit all dem Überfluss und Sunita muss in diesen Umständen leben? Ich bin Coach. Das Leben selber in die Hand nehmen, sich Ziele setzen und angehen, gehören ins Coaching. Wie lächerlich erschien mir diese Haltung dem Leben gegenüber angesichts dieser Umstände. Was kann dieses Mädchen in die Hand nehmen? Was kann sie – wirklich – gestalten? Nur wenig, zumindest, was die äußeren Umstände angeht. Innerlich gestaltete Sunita vorbildlich viel. Sie war mit Freude und Engagement bei der Arbeit und im Kontakt mit uns Treckern. Dennoch: Herr, warum lässt du zu, dass Sunita nicht mehr zur Schule gehen, keinen Beruf ergreifen und ihr Leben freier gestalten kann? Ich habe keine Antwort darauf. Das muss ich aushalten.

  1. Ich kann anerkennen: Der Retter der Welt ist Jesus. Ich bin es nicht.

Meine Seele ist nicht dafür ausgerüstet, mit dem geballten Elend der Welt konfrontiert zu werden. Wie war das früher über Jahrtausende lang? Ja, es gab noch mehr offenes Elend, als wir es heute in West-Europa kennen: Naturkatastrophen, Epidemien, Kriege. Dennoch: Man bekam mit, was im eigenen Dorf geschah, und hörte vielleicht noch die Nachrichten von den Nachbardörfern und Städten. Das Elend passierte im eigenen Umfeld. Die Nachbarfamilie, die aufgrund der Pest drei Kinder verlor, konnte ich trösten, indem ich ihnen eine Mahlzeit vorbei brachte oder mit ihnen trauerte.

Wir bekommen das Elend von überall in unser Wohnzimmer übertragen. Wir schauen per Großaufnahme in das verzweifelte Gesicht der Mutter, deren beide Töchter gerade entführt und vermutlich bereits vergewaltigt wurden. Mein Herz kann das nicht verkraften. Diese Bilder traumatisieren mich. Ich fühle mich hilflos und ohnmächtig. Und gerade das Nichts-Tun-Können außer kurz zu beten hinterlässt eine große Schwere in mir.

Menschen mögen hier unterschiedlich reagieren. Ich jedoch merke, dass ich nur sehr begrenzt diese Nachrichten hören und Filme und Bilder noch eingeschränkter sehen darf.

Das ganze Elend bringt viele Fragen auf – die größte davon: Warum lässt Gott das Leid zu? Ich habe auf vieles keine Antwort. Dereinst werde ich Gott viele Fragen stellen.

Für den Augenblick erlaube ich mir, mich nicht jedem Leid, das die Medien übertragen, in voller Intensität auszusetzen. Das hält mein Herz auf Dauer nicht aus. Und dadurch kann ich die Welt nicht retten. Das kann ohnehin nur Jesus.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es mir gleichgültig ist, wie es anderen geht.

  1. Ich kann Not lindern

Es ist gesund und gut von Not der Welt, von dem Elend eines Menschen, angerührt zu sein und helfen zu wollen. Gott hat uns so geschaffen, dass unser Herz berührt wird, wenn wir sehen: Da geht es einem Menschen schlecht. Er braucht Hilfe. Ja, wir müssen mit anpacken, Hilfe zum Guten leisten, um an unserer Seele keinen Schaden zu leiden. Wenn wir mit der Fernbedienung in der Hand, fettreduzierte Chips essenderweise nur denken: „Na, da bin ich aber erleichtert, dass es mir gut geht und ich nicht in diesen Zuständen in Syrien oder im Irak lebe“, dann missbrauchen wir die Not der anderen, um uns für einen Moment besser zu fühlen. Wie pervers ist das und doch … ich habe schon oft genauso gedacht.

Es gibt Menschen, die haben von Natur aus die Gabe der Barmherzigkeit. Leid und Elend führen diese Menschen besonders an und es treibt sie dazu, zu helfen. Not zieht sie sozusagen an und sie helfen von Herzen gerne. Mein Mann ist so jemand und er hat den für ihn sehr passenden Beruf als Hausarzt gewählt.

Doch auch für Menschen, wie ich es bin, denen diese Gabe nicht in die Wiege gelegt ist, dürfen darin wachsen, barmherzig zu werden. Wenn wir Christus nachfolgen, folgen wir dem nach, der sagt: Ich bin für die Kranken und Schwachen gekommen. Er ist der, der in Lukas 4 deutlich macht, was ihm wichtig ist und was im Reich Gottes im Zentrum steht: Das ist, den Armen, Gefangenen, Blinden und Schwachen zu helfen. Wenn wir uns viel mit diesem Jesus beschäftigen, wird unser Herz verändert. Dann bemerken wir plötzlich Tränen in unseren Augen, wenn wir während der Tagesschau in das traumatisierte Gesicht eines Menschen blicken. Wir gehen hinüber zu dem Bettler vor dem Supermarkt und fragen ihn: „Wie heißt du? Wo kommst du her? Warum stehst du hier?“ Wir kommen mit ihm ins Gespräch und wir werden tief berührt von der Not dieses Menschen. Dann erleben wir plötzlich, wie unser Herz hüpft, weil wir einen kleinen Unterschied für einen solchen Menschen, oder eine solche Familie machen können. So war die Freude unserer Gemeinde riesengroß als wir einer rumänischen Familie helfen konnten, vor Wintereinbruch aus ihren Zelten in eine Wohnung zu ziehen.

Ja, wir müssen Not lindern. Um beim anderen Not zu lindern, so wie Jesus es tat, aber auch um selber Mensch zu bleiben und ein weiches Herz zu behalten. Gleichgültigkeit schadet auch unserem Herzen. Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft verwandelt uns als Gebende. Es ist nicht von ungefähr, dass geistliche Autoren, wir Richard Rohr, Bill Hybels und viele andere „uneigennützigen Dienst am anderen“ als einer der Säulen für das eigene geistliche Leben nennen, auf das wir nicht verzichten dürfen.

Inmitten der Not der Welt dürfen wir dennoch innehalten und uns unserer eigenen Seele, dem eigenen Erleben zuwenden.

  1. Ich gebe den Anspruch auf, dass es mir immer gut gehen muss

Auch in Deutschland ist unser normales Leben nicht einfach. Auch ohne besondere Schicksalsschläge haben wir alle Herausforderungen zu bewältigen und unser Leben ist kein dauernder Spaziergang im Paradies. Es gibt Zeiten, da geraten wir in Krisen und die Wellen schlagen über uns zusammen. Manchmal von außen ausgelöst: Eine chronische Krankheit wird vom Arzt bestätigt, die Ehe trotz viel Gebet geschieden oder das geliebte Kind entfremdet sich immer mehr von der Familie. Oder es melden sich Depressionen oder Ängste und Belastungen oder Schwäche von innen. Ja, es gibt in unser aller Leben Zeiten, in denen es uns einfach nur schlecht geht.

Darf es mir aber schlecht gehen? Damit ist nicht die Frage gemeint, ob es schlechte Zeiten in meinem Leben gibt oder nicht, sondern ob es zu meinem Selbst- und Menschenbild passt, dass Leid zu jedem Leben gehört, auch zu meinem. Meine Beobachtung als Beraterin ist folgende: Diejenigen, die Schmerzen und Leid und Krisen meiden wie die Pest, bleiben viel länger in ihnen latent verhaftet bzw. verstricken sich immer mehr darin. Der Weg ins Leben führt über mein Leben, wie ich es tatsächlich erlebe. Ein wichtiger Schritt ins Leben ist den Anspruch „Es müsste oder sollte mir gut gehen“ aufzugeben und mir einzugestehen: Es geht mir schlecht und das darf jetzt sein. Ich sitze in der Scheiße. Ich weiß keinen Ausweg. Ich habe keinen Plan mit fünf Punkten, mit dem ich schnell wieder auf die Sonnenseite des Lebens gelange.

Manchen von uns fällt dieses „Nicht-Lösen-und-Ändern-Können“ unglaublich schwer. Kontrolle aufgeben? Unmöglich, denken wir. Wir scheinen von unserer Persönlichkeit völlig anders gestrickt zu sein. Und doch … gerade diese Zeiten, in denen es uns schlecht geht und wo wir uns auf den Kopf stellen können und doch nichts ändern können, das sind die Zeiten, in denen sich unsere Kontrollhaltung lockern darf und wir – wieder, erneut – merken: Ich muss mein Leben gar nicht kontrollieren, sondern darf mich tatsächlich dem anvertrauen und überlassen, der alleine mein Leben in seiner Hand hält und der vertrauenswürdig ist.

Das erstaunliche ist: Wenn wir losgelassen haben, uns Gott überlassen haben, atmet etwas in uns auf und wir spüren tief in uns: Es ist okay. Das darf jetzt sein und Gott geht mit mir seinen Weg, auch wenn ich nicht weiß, wohin er führt.

  1. Ich halte inne und frage mich: Wie geht es mir denn wirklich?

Ich kenne Zeiten, in denen ich klar und positiv unterwegs bin. Wie liebe ich diese Tage und wünschte, es würde mir immer so ergehen. Doch ich erlebe auch andere Zeiten. Da kann ich auf die Frage, wie es mir denn wirklich geht, eigentlich gar nicht antworten. Ich denke in diesen Momenten auch gar nicht an das Leid der Welt.

Ich lebe mein normales Leben und funktioniere irgendwie. Wirklich schlecht geht es mir ja auch nicht, aber eigentlich spüre ich in diesem Moment gar keinen Zugang zu meinem Inneren. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, wie es mir geht. Ich fühle mich ein Stück mir selbst entfremdet. Und genau dann gebe ich manchmal diese Antwort: „Eigentlich geht es mir gut … denn mein Leben ist eigentlich ganz gut auf der Reihe.“ Und: „Es gibt doch eigentlich gar keinen Grund, dass es mir nicht gut gehen sollte.“

Und doch, wenn ich innehalte, spüre ich in meiner Stille: Es geht mir nicht gut. Manchmal komme ich alleine dem Knoten in meiner Seele auf die Spur. Manchmal erkenne ich den Zusammenhang zu einem schwierigen Ereignis in der letzten Zeit, Überforderung, zu wenig Erholung. Aber manchmal brauche ich dann auch die Hilfe von außen. Ich brauche die Frage meiner geistlichen Begleiterin oder der Freundin, um ein verborgenes Elend in meiner Seele zu erkennen. Oft ist dies der erste Schritt wieder in Kontakt mit mir selber zu kommen und mich Gott mit dem, was da zutage tritt, hinzuhalten.

An der Haltung festzuhalten: „Es geht mir gut!“ oder gar: „Er muss mir gut gehen, denn ich habe doch keinen gewichtigen Grund, dass es mir schlecht geht“, hilft hier nicht weiter. Erst die Bereitschaft, all mein Erleben, so wie es nun einmal ist, zuzulassen, ohne es zu bewerten, anzuschauen, den Schmerz, die Enttäuschung, die Wut, die Traurigkeit, die sich hinter meiner emotionalen Blockade verbirgt, zu spüren und mit Jesus genau darüber ins Gespräch zu kommen, lässt mich aus der Orientierungslosigkeit und Schwere die nächsten Schritte auch wieder aus dem Tunnel heraus zu gehen.

Immer mal wieder kommen bei mir selbstgemachte Tsunamis ans Licht. Immer wieder hege ich Ansprüche an das Leben, die unrealistisch und von Jesus auch nicht verheißen sind. Wie oft versage ich Gott mein Ja, auch Schweres in meinem Leben anzunehmen. Wie häufig sage ich zu schnell „Ja“ und zu selten „Nein“ und dann wundere ich mich, dass ich mich überfordert fühle. Wie häufig bin ich noch verführbar über Anerkennung und das, was andere von mir erwarten oder denken. Hier darf, ja muss ich es lernen, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen und Grenzen zu setzen. Oft auch meinen eigenen Ansprüchen gegenüber.

Was aber kann ich tun, damit es mir tatsächlich – und nicht nur eigentlich – gut geht?

Folgendes ist mir für mein Leben wichtig geworden:

  1. Ein „Ja“ zu mir finden

Ich strebe danach – oder ich lasse es mir schenken – ein „Ja“ zu mir und meiner Person zu haben. Das finde ich gar nicht so einfach, denn immer wieder habe ich den Eindruck: „Birgit, du bist eine so komische Type.“ Früher war dies stark mit einer ablehnenden Haltung und dem Wunsch verbunden, dieses oder jenes meiner Seele verändern zu wollen. Wir können wohl unserer Taten lenken, nicht aber unser Seelenleben. Das kann nur Gott und es ist sein Wunsch, dass wir uns als die, die wir sind, annehmen und nicht zurechtbiegen. Ich spüre eine Zunahme an Lebensenergie, wenn ich freundlich lächelnd auf mich selber blicke und mich, so wie ich bin, annehme.

  1. Meine Bedürfnisse ernst nehmen

Ich nehme meine Bedürfnisse ernst, die ich habe, und sorge dafür, dass sie in meinem Leben Raum haben. Ich warte nicht darauf, dass meine Freundinnen oder mein Ehemann für meine Bedürfnisse sorgen, sondern übernehme selber die Verantwortung dafür. Ein Bedürfnis von mir ist z.B. mein Mittagsschlaf. Ich habe nachts manchmal einen empfindlichen, schlechten Schlaf und somit bin ich mittags erschöpft. Während andere den Tag gut durcharbeiten können, tut es mir gut, mittags dreißig Minuten zu liegen und zu schlafen. Es tut mir gut, wenn ich dem – trotz langer To-do-Listen – Raum gebe.

  1. Für leistungsfreie Zeiten sorgen

Als eher leistungsorientierter Mensch brauche ich leistungsfreie Zeiten, damit es mir und meiner Seele gut geht. Ich nehme mir viel Zeit zur Stille, zum Sein vor Gott. Es tut mir gut, den Tag am Morgen in der Stille und im Gespräch mit Gott zu beginnen. Die Basis für mein Leben ist die Liebe und Annahme durch Gott. Damit dass schon einmal klar ist, bevor ich, wie wir alle, im Verlauf des Tages Erfolge und Misserfolge erlebe. Ich plane zu Beginn eines neuen Jahres Stille Tage für das kommende Jahr mit ein.

Und ich brauche leistungsfreie Zeiten mit Menschen. Die Zweierschaft mit der Gebetspartnerin. Treffen mit der Freundin. Meine Kleingruppe. Die eigene geistliche Begleitung. In diesen leistungsfreien Zeiten mit Menschen kommt mein ganzes Leben, so wie es ist, zur Sprache und nicht nur meine Aufgabe, Rolle und Funktion. Wie lebensfördernd erlebe ich das.

  1. Immer wieder innehalten

Immer mal wieder halte ich inne und frage mich: Was gibt mir Energie? Wohin geht meine Energie? Ich male zwei Kreise auf und verteile unter diesen beiden Überschriften die Kuchenstücke. Aus dem Bauch heraus. Immer wieder staune ich über die erstaunlichen Erkenntnisse. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie stark mich der Konflikt mit XY belastet. Nun sehe ich es vor mir und kann neu überlegen, wie ich damit nun umgehen möchte.

  1. Der Lebensfreude Räume geben

Ich gebe der Lebensfreude Raum und spüre meiner inneren Lebendigkeit nach. Manchmal im Großen, wie bei einer abenteuerlichen Tandemtour mit meinem Mann über die Alpen, aber auch im Kleinen im Alltag. In einem nahe gelegenen Park gehe ich regelmäßig joggen. Schon oft hatte mich die große Schaukel angelacht und ich beobachtete Kinder, wenn sie dort spielten. Dann kam der Tag, an dem ich mir sagte: Ich wage es: Ist doch völlig egal, was die Leute denken: Ich gehe jetzt schaukeln, und dann schaukelte ich – wie schon als Kind – mit Lust und Wonne. Ich schaukelte hoch und höher und liebte es, den Wind in meinem Gesicht zu spüren. Ich spürte, wie Sorgen und Stress von mir abfielen und ich wie mein Herz zu hüpfen begann.

Seitdem schaukele ich meistens am Ende meiner Joggingzeit. Dann sitze ich auf der Schaukel, versuche meine Gedankenketten zu unterbrechen und mit allen Sinnen präsent zu sein: Achtsam die Bäume, den blauen oder grauen Himmel zu sehen, meinen Körper zu spüren. Und dann merke ich: Ja, es geht mir gerade wirklich richtig und tatsächlich rundum gut.

Und was sagt Jesus zu einem guten Leben? Ich liebe die Bibelstelle: Matthäus 11,28-31, wie Eugene Peterson sie übersetzt:

Bist du müde? Erschöpft? Ausgebrannt von Religion?
Komm zu mir.
Komm mit mir und lass all das hinter dir,
dann wirst du dein Leben wiedererlangen.
Ich zeige dir, wie du wirklich zur Ruhe kommst.
Geh mit mir und arbeite mit mir – schau mir zu, wie ich es mache.
Erlerne den ungezwungenen Rhythmus der Gnade.
Ich werde dir nichts Schweres oder Unpassendes auferlegen.
Habe Gemeinschaft mit mir und du wirst lernen, frei und leicht zu leben.
(Matthäus 11,28-30 nach Eugene Peterson)