Ganzheitlich leben

Wir leiden mit den Menschen in den Krisen- und Kriegsgebieten – und stehen gleichzeitig vor der Herausforderung, unseren eigenen Alltag gut zu bewältigen. Birgit Schilling gibt fünf Anregungen, wie wir als Christinnen verantwortlich in dieser Welt leben können.

Wir alle kennen die Situation: Wir sitzen vor den Abendnachrichten und blicken in das Gesicht einer syrischen Mutter, deren Tochter vor kurzem verschleppt und seitdem verschollen ist. Wir sehen die wüste Zerstörung einer ukrainischen Stadt. Wir hören das Interview mit dem kenianischen Vater, der berichtet, dass er wegen der anhaltenden Dürre in seinem Land, seine Familie nicht mehr ernähren kann.

Wenn diese Bilder und Nachrichten so geballt auf mich einströmen, schießen mir Tränen in die Augen. Ich spüre solch eine Traurigkeit angesichts dieser großen Not weltweit. Manchmal plagen mich auch Schuldgefühle. Da sitze ich nach einem guten Abendbrot vor dem Fernseher und blicke in hungernde Gesichter.

Immer wieder erfüllt mich dieses Gebet: „Oh Herr Jesus Christus, erbarme du dich! Hab Erbarmen mit dieser Welt!“ Es ist ein Gebet, mit dem ich meine Ohnmacht ausdrücke und gleichzeitig mich an den wende, von dem ich weiß, dass er die Welt in seinen Händen hält. Obwohl und Dennoch. Das ist mein Glaube.

Keine neue Situation

Wenn wir in die Bibel schauen, dann sind gerade mal die ersten und die letzten beiden Kapitel der Bibel dem Sein ohne Leid, Not und Elend gewidmet. Der ganze Rest dazwischen ist geprägt von Unruhe, Leid, Krieg, Unterdrückung, Mord und Todschlag, Ausbeutung und viel Elend. Zeiten des Friedens waren seitdem die Ausnahmen und oft galt der Friede auch nur einer Volksgruppe, während andere Völker unterdrückt wurden.

Auch zur Zeit Jesu herrschten im Volk Israel schwere Zustände. Das Elend der Bevölkerung war sehr groß. Die normale Verteilung in der Antike war: 5 % Oberschicht, 15 % Mittelschicht, 40% Unterschicht, 30% Tagelöhner und Sklaven und zur Zeit Jesu war es noch schlimmer. Das Volk Israel wurde dreifach besteuert: Steuern an Herodes, die Tempelsteuer und zusätzlich noch Steuern an die Römer. Wir können uns die damalige Not gar nicht vorstellen.  Ja, es war schon immer schlimm. Und so ist unser Erleben der letzten 75 Jahre in West-Europa, ohne Krieg, Pandemie und anderem Elend, das das Leben auf den Kopf stellte, die Ausnahme, nicht aber die Norm.  

Dann kam Corona und zwei Jahre später der Krieg in der Ukraine, einer von 25 aktuellen Großkonflikten dieser Welt. Von vielen bekommen wir fast gar nichts mit.

Wie kann ich als Christin verantwortlich in dieser Welt leben? Was ist mir persönlich ein Geländer?

1. Ich lasse mich von der Not innerlich berühren

Wenn wir nahe mit Gott leben, wird uns Not von anderen nicht egal sein, sondern unter die Haut gehen. Das ist ein Zeichen von geistlicher Gesundheit und nichts, was wir abwehren sollten. Jesus selbst ließ sich von Traurigkeit über Missstände und Not überfluten und weinte z.B. über den Zustand Jerusalems (Matthäus 23,37).

Wir können nur ganzheitlich lebendig werden. Wenn ich Freude tief empfinde, werde ich auch Traurigkeit und Schmerz spüren. Und auch auf Not werde ich tiefer reagieren, wenn ich innig mit dem Lebendigmacher, dem Heiligen Geist, lebe. Und dann schütte ich mein belastetes Herz vor Gott aus und bringe, vielleicht stotternd oder unter Tränen, meine tiefe Betroffenheit über so viel Krieg und Elend vor Gott.

Dabei weiß ich Gott an meiner Seite, denn auch er leidet an dieser Welt.  Der französische Autor Paul Claudel sagte einmal: „Gott ist nicht gekommen, das Leid zu beseitigen, er ist nicht gekommen, es zu erklären, sondern er ist gekommen, es mit seiner Gegenwart zu erfüllen.“

Und so bete ich darum, dass Gott den Sterbenden, Leidenden und Flüchtenden mit seiner Gegenwart beisteht und die Herzen der Menschen in den Machtzentralen berührt und zum Guten bewegt. Ich bete um Frieden in dieser Welt und ganz konkret für Situationen, um die ich weiß und Gott mir aufs Herz legt, alleine und auch mit anderen gemeinsam.

2. Ich versuche nach meinen Möglichkeiten, ein wenig Not in dieser Welt zu lindern

Diese Zeilen schreibe ich in einem kleinen Bergdorf in Nepal, wo mein Mann – Allgemeinmediziner – für einige Wochen in einem Gesundheitsposten mitarbeitet. Ich helfe ein wenig mit, wo meine Hilfe gebraucht wird. Diese Möglichkeit ist uns gegeben, da wir früher einmal als Missionare in diesem Land gelebt haben. Auch daheim in Deutschland versuche ich offene Augen zu haben, wo ich helfend anpacken kann – in meiner Nachbarschaft, meinem Umfeld, meiner Gemeinde.

„Herr mache mich zum Werkzeug deines Friedens…!“ Dieses wunderbare Gebet, das erst im Jahre 1912 auftauchte, jedoch inhaltlich Franziskus von Assisi zugeschrieben wird, fordert uns auf, Friedensstifter in dieser Welt zu sein. In der französischen Übersetzung heißt es: „Lass mich Handwerker deines Friedens sein.“

Handwerker des Friedens sein kann vielfältig aussehen: Hausaufgabenbetreuung von Flüchtlingskindern, Obdachlosenhilfe, Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie, praktische Nachbarschaftshilfe, Beratung von Menschen in Not, Begleitung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder Behinderungen und vielem mehr.

Mir persönlich ist das Thema: Spiritualität, Stille und Gebet und aus der innigen Beziehung mit Christus zu leben, wichtig. Auch Jesus hatte Beziehungszeiten mit seinem Vater, wenn er sich immer wieder in die Stille zurückzog (trotz so viel drängender Not damals). Und doch: Alle Innerlichkeit und Spiritualität, die uns nicht ebenso zu dem anspornt, was die Bibel „Gemeinschaftsgerechtigkeit“ nennt, also das Wohl aller Menschen auf dieser Erde in den Blick zu nehmen, ist ein Irrweg.

Berufen, mitanzupacken

Wir sind berufen, an der ein oder anderen Stelle mit anzupacken und so „Handwerker des Friedens“ zu sein. Das Erstaunliche ist ja, dass wir, indem wir anderen helfen, unser eigenes Herz mit heilen. Wir erleben inmitten der Hingabe an andere die Anwesenheit Jesu, so wie er es verheißen hat. („Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ Matthäus 25,40.) Auch Franziskus von Assisi verband das Gebet mit dem aktiven Helfen. Er wohnte mit seinen Mitbrüdern einige Kilometer außerhalb der Stadt, um einerseits dort in Ruhe beten zu können, und doch die Stadtnähe zu haben, um tagsüber dort den Kranken und Elenden zu helfen.

Wer ist mir denn der Nächste? fragte ein Schriftgelehrter Jesus. Mit der Erzählung vom barmherzigen Samariter kehrte Jesus die Frage um und sagte: Werde du ein Nächster für den, der unter die Räuber gefallen ist (Lukas 10,29 ff).

Ich möchte immer wieder Ausschau halten, um zu erkennen: Wer ist in meiner Umgebung unter die Räuber gefallen? Und mich auch fragen: Welche der vielfältigen Not in der Welt berührt mein Herz ganz besonders? Wo bin ich konkret gefordert?

3. Ich unterstütze Organisationen und Menschen, die an anderen Teilen der Welt existentielle Not lindern

Dadurch, dass ich Geld spende, können sie ihren Dienst tun. Es ist Not-wendig, dass wir unser Geld mit anderen teilen. Es ist uns von Gott anvertraut, um uns zu segnen und um den Segen mit anderen zu teilen. Wenn wir freiwillig Geld spenden, lockert sich unsere Tendenz zur Habgier, unsere Selbstbezogenheit und überzogener Absicherung unseres Lebens. Unsere Herzen werden geweitet und freier.

4. Ich akzeptiere, dass ich als Mensch mein Mitgefühl begrenzen muss

Gottes Mitgefühl gilt jedem Menschen auf dieser Erde. Das überfordert ihn nicht. Ich jedoch bin ein begrenzter Mensch. Das ist einfach so und das darf ich annehmen.  

Als in meiner Gemeinde der Ehemann einer Frau in meinem Alter starb, konnte ich sie besuchen, Anteil nehmen, ihr zuhören und mit ihr beten. Und als vor kurzem mein Vater starb, stand meine Nachbarin vor der Türe. Sie sagte nicht viel, doch sie wollte mich mit einer Dose selbstgebackener Plätzchen trösten. Diese anteilnehmende Geste ließ mich in Tränen ausbrechen und berührte mein Herz.

Ja, lass dich von Not berühren. Dieses Berührt werden ist ein Zeichen, dass wir Gott ähnlicher werden, denn ihn, so sagt die Bibel, berührt die Not von uns Menschen auch. Aber lass nicht zu, dass du von der Not der Welt überflutet wirst. Hab Acht auf dich und auf die Grenze deines Mitgefühls. Für mich bedeutet das auch, dass ich nur ab und zu Nachrichten schaue. Als sensibler Mensch muss ich hier auf mich Acht haben.

Wie viel ist genug?

Vielleicht fragst du dich jedoch: Woher weiß ich denn, dass es genug ist, was ich tue oder spende? Wann darf ich denn mein schlechtes Gewissen ablegen?

Ich bin davon überzeugt: Gott leitet uns nie über Druck, Schuldgefühle und Anklage. Das tun wir in der Regel selbst. Frage Gott, was für dich dran ist zu tun, habe ein offenes, weiches Herz, besprich die Sache mit einer Freundin oder mit einem Geistlichen Begleiter. Und dann triff im Vertrauen auf Gott eine Entscheidung. Hab nicht den Anspruch, es richtig machen zu müssen. Folge stattdessen Jesus nach, unvollkommen wertvoll wie du bist und gehe froh deiner Wege.

Martin Luther sagte einmal: Sündige tapfer! Ich liebe diese Aussage sehr, denn sie erleichtert mich daran: Ich muss Fehler oder Versäumnisse nicht fürchten, sondern bin berufen, leidenschaftlich und lebendig zu leben und nicht dazu: Sünden und Fehler zu verhindern. Ich darf mutig und unvollkommen leben und lieben – Gott, den Nächsten und mich selbst.

5. Ich nehme mit Gottes Hilfe die Verantwortung wahr, gut für mich zu sorgen, um ein fröhlicher Mensch zu bleiben

Es mag uns überraschen, doch inmitten der notvollen Umstände zu biblischen Zeiten (s.o.), dreht sich vieles in den biblischen Texten um die Freude. Ja, Wikipedia nennt das Christentum die Religion der Freude.

Im Alten Testament ist mehr als 200 mal und im Neuen Testament mehr als 100 mal von Freude die Rede. Und wenn wir andere Begriffe wie Jubel, Lust, Lebendigkeit, das Verb „freuen“ und anders hinzufügen sind es noch viel, viel mehr.

Psalm 16,11: „Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle!“

Psalm 30,12: „Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen … Du hast mich mit Freude gegürtet.“

Psalm 100: „Dient dem Herrn (… mit Pflichtgefühl? Nein!) Dient dem Herrn mit Freuden!

In einigen Psalmen wird ein besonderes Freudenwort genannt: die Lust.

So heißt es in Psalm 1, dass wir unsere Lust am Gesetz Gottes haben sollen und damit ist letztlich Gott selbst gemeint. Nicht die Pflicht ist wichtig, sondern die Lust ist entscheidend. Das ist der Dreh und Angelpunkt. Und wenn wir Freude an Gott haben, so viel Lust auf Gott, dann werden wir wie ein Baum sein, der an Wasserbächen gepflanzt ist und der Frucht bringt.

Der Psalmist folgt der Erkenntnis der heutigen Hirnforschung, dass nur das wirklich einen stärkenden Impuls in unserem Leben hinterlässt, das mit Begeisterung und Lust aufgenommen wird – und zwar ca. 30-45 Sekunden lang. Das kann die Pflicht uns nicht bieten.

Als Jesus geboren wurde, verkündeten die Engel den Hirten: „Siehe ich verkündige euch…“ Was haben sie verkündet? Genau: große Freude… „denn euch ist heute der Heiland geboren!“ (Lukas. 2,10).

Jesu Leben beginnt … mit Freude. Und Freude bleibt ein zentrales Thema in den Evangelien und den neutestamentlichen Briefen. 

In Johannes 15,11 spricht Jesus davon, dass wir in seiner Liebe bleiben sollen. Warum? „… damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde…“. Wenn er in uns lebt, wird Freude uns erfüllen und nach außen durchscheinen!

Vier Grundbedürfnisse

Eine aktuelle Psychotherapierichtung nennt sich Schematherapie. Sie unterscheidet vier psychologische Grundbedürfnisse:

  1. Bindung, Zugehörigkeit, Verbundenheit
  2. Orientierung, Sicherheit
  3. Selbstwert, Geliebt werden wollen, Angenommensein
  4. Freude, Lust

Freude und Lust sind also kein Luxus, sondern ein tiefes Bedürfnis, dass Gott in uns hineingelegt hat.

Der Hirnforscher Prof. Gerald Hüther sagte einmal, dass wir Menschen jeden Tag 30-50 Duschen der Begeisterung brauchen, um psychisch gesund zu bleiben. Mein kleiner Enkelsohn hat dies. Er kann sich über jede kleine Blume und Pfütze erfreuen und begeistern. Wir älteren Menschen können von den Kleinen lernen, achtsam für den jeweiligen Moment zu werden und uns ausgiebig (30-45 Sekunden lang!) daran zu erfreuen. Wir sind also angehalten, immer wieder innehalten und hinschauen und uns freuen und ausgiebig das Schöne in uns aufzunehmen: die Blumen auf dem Tisch, den blauen Himmel, die nette Begegnung mit der Kassiererin im Supermarkt, ein schönes Lied, das Strahlen des Kindes, ein leckeres Essen, das wertschätzende Gespräch mit der Kollegin und vieles mehr. 

Gute Selbstfürsorge

Nach über zwei Jahren Pandemie sind wir alle ein wenig oder sehr stark angeschlagen. Das Erleben von Lockdowns, ständiger Kontakteinschränkungen, Isolationen aufgrund von Vorerkrankungen, dem Sterben von Lieben in unserem Umfeld … es hat uns mürbe und dünnhäutig gemacht. Wir sind so bedürftig nach Fröhlichkeit und Leichtigkeit und dürfen unseren Teil dazu tun. Selbstfürsorge, trotz und inmitten von viel Not um uns herum, ist nötig und nicht egoistisch. Jesus sagte einmal: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Markus 6,38).

Wir haben es nötig, immer mal wieder unsere Antennen nach innen zu richten, zu uns selbst hin, Interesse zu zeigen an unserem Wesen, unserer Gestimmtheit und Erleben. Wir dürfen uns fragen:

  • Wie geht es mir eigentlich gerade? Wie bin ich derzeit gestimmt, auch jetzt zu dem Zeitpunkt, wo ich diesen Artikel lese?
  • Was belastet mich, wenn ich ehrlich bin, und raubt mir meine Lebensfreude?
  • Was sind meine persönlichen Quellen der Freude? Kenne ich sie?
  • Wann hüpft mein Herz?
  • Wonach sehnt sich meine Seele und worauf hat sie Lust?

Diese Fragen sind gar nicht so einfach zu beantworten und dennoch, sind sie von großer Tragweite.

Lust- und Lebensfreude

Ich habe vor ein paar Jahren bemerkt, wie sehr ich die Musik in meinem Leben vermisse. Eigentlich hatte das Singen und Musizieren immer zu meinem Leben gehört, doch dann schien bei dem vielen anderen in meinem Leben kein Raum mehr dafür zu sein. Ich entschied mich, wieder Musik- und Klavierunterricht zu nehmen und seit Anfang dieses Jahres singe ich auch wieder in einem Vokal-Ensemble mit.

Dafür gibt es nur einen Grund: Lust und Lebensfreude. Wenn ich singe und musiziere, alleine oder mit anderen, hüpft immer mal wieder vor Freude mein Herz. Ich lebe auf. Es tut mir so gut, aus dem Zweckdienlichen in meinem Leben auszusteigen und der Lust und Freude mehr Raum zu geben.

Wie ist es bei dir? Was geht dir beim Lesen dieser Zeilen durch den Sinn? Wohin zieht es dich schon länger, doch du schiebst es immer wieder zur Seite? Was sind die Oasen in deinem Leben, wo du auftankst?

Vielleicht möchtest du einen Zeitpunkt festlegen, wo du in Ruhe diesen Fragen nachgehen möchtest, alleine oder mit einer Freundin oder deinem Ehepartner.

Birgit Schilling ist Autorin, Supervisorin und Coach (www.schilling-supervision.com) und lebt mit ihrem Mann in Köln. Ihre aktuellen Bücher zur Vertiefung der Spiritualität: „Verwandelt- Werden, wie Gott mich gedacht hat“ und „Unvollkommen wertvoll – Warum meine Schwäche sein darf.“, SCM R.Brockhaus.

5 Fragen zum Innehalten

  • Wie geht es mir eigentlich gerade? Wie bin ich derzeit gestimmt, auch jetzt zu dem Zeitpunkt, wo ich diesen Artikel lese?
  • Was belastet mich, wenn ich ehrlich bin, und raubt mir meine Lebensfreude?
  • Was sind meine persönlichen Quellen der Freude? Kenne ich sie?
  • Wann hüpft mein Herz?
  • Wonach sehnt sich meine Seele und worauf hat sie Lust?