„Was kann durch mich an Gutem in dieser Welt geschehen – im Kleinen und im Großen?“ 

„Wir brauchen große Tapferkeit, Mut und Vertrauen auf Jesus, dass wir ein Ja zu unserer Einmaligkeit haben.“ 

„Gott führt uns nicht über Druck, sondern über die Sehnsucht“ 

Lesezeit: 15–20 Minuten

 Wie wir auf gute Weise herausfinden, wer wir sind und was unsere Berufung sein könnte, verrät Birgit Schilling. 

Irgendwie suchen wir alle nach unserer „Berufung“. Aber was ist das eigentlich genau? Wie würdest du „Berufung“ definieren? 

Wenn ich das Wort „Berufung“ verwende, dann meine ich damit unsere „Tu-Berufung“ in Beruf, Ehrenamt und woanders. Diese Tu-Berufung steht in engem Zusammenhang mit meinem Sein, wer ich wirklich bin, was zu mir gehört: meine Gaben, Fähigkeiten und Herzensanliegen. Ich frage mich: Was kann durch mich an Gutem in dieser Welt geschehen – im Kleinen und im Großen? 

Dass der Begriff „Berufung“ in der Bibel und in der spirituellen Literatur auch viel umfassender und anders verwendet wird, ist mir klar und ich teile diese Grundbedeutung auch: Meine allererste Berufung ist es, Kind Gottes zu sein und Jesus Christus nachzufolgen. Meine Tu-Berufung erschließt sich mir aus der Art und Weise, wie Gott mich geschaffen hat. Es ist für mich Teil meiner konkreten Nachfolge Jesu. 

Warum ist es wichtig, sich mit der Frage nach der eigenen Berufung zu beschäftigen? 

Es tut uns gut, den Fragen nachzugehen: Wer bin ich und wie ist mein Wesen? Aus welcher Machart bin ich beschaffen? Was passt zu mir und was auch nicht? Die Fragen sind gar nicht so einfach zu beantworten. Doch es lohnt sich, immer mal wieder unsere 

Aufmerksamkeit nach innen zu richten und Interesse an unserer eigenen Art (engl: Kunst!) zu haben. 

Die Frage nach der eigenen Berufung beinhaltet für mich auch, wahrzunehmen, wann mein Herz hüpft – bei welcher Tätigkeit, in welchem Umfeld und wann halt auch nicht. Dahinter steht die Überzeugung, dass mein Herz hüpft, wenn ich im Einklang mit meinem Wesen aktiv bin. Bei der Frage nach der eigenen Berufung geht es nicht um etwas, das uns Energie raubt, sondern es ist eine Entdeckungsreise dahin, dass wir herausfinden, was uns Energie gibt und aufblühen lässt. 

Wir sind von Gott so geschaffen, dass wir einen Beitrag in dieser Welt leisten möchten, der über uns selbst und unsere Familien hinausgeht. Wir spüren Freude und tiefen Sinn, wenn unser Leben einen Unterschied für einen anderen Menschen macht. 

Wie geht man mit der Frage nach seiner Berufung um, wenn in der aktuellen Lebensphase gefühlt alle Energie durch den Beruf und vielleicht noch zusätzlich ein Familienleben mit kleinen Kindern aufgebraucht ist? 

Jesus holt uns immer genau da ab, wo wir gerade tatsächlich sind und nicht, wo wir meinen sein zu sollen. Wenn ich als berufstätige Mutter mit kleinen Kindern gerade total am Limit bin, dann ist wichtig, dass ich mir das eingestehe und im Gespräch mit Jesus und lieben Menschen nach Strategien suche, wie ich Stress und Belastung vermindern kann. Die Kleinkindphase plus Berufstätigkeit bringt per se schon eine hohe Belastung mit sich. Vermutlich ist es zu diesem Zeitpunkt gar nicht dran die Frage nach der Berufung zu vertiefen, entweder, weil ich den Eindruck habe, voll in meiner Berufung zu sein, als Mama und im Beruf, oder weil gerade nicht das Interesse oder auch die Kraft da ist dieser Frage nachzugehen. Das ist voll okay. 

Und wenn ich darunter leide, dass gerade nicht mehr möglich ist? 

Dann versuche, dein Leben aus der großen Perspektive zu sehen – von 0-90 Jahren und mache dir bewusst, an welcher Stelle du jetzt bist und dass die Kleinkindphase eine vergleichsweise kurze Zeitspanne ist und dass dereinst andere Lebensphasen mit mehr Freiraum folgen. Es kann gut sein, dass die Frage nach deiner Berufung zu einem anderen Zeitpunkt die brennende Frage wird, der du dich zuwenden möchte. 

Obwohl ich selbst als Adoptivmama jahrelang sehnlichst auf Nachwuchs gewartet hatte, fiel mir die Kleinkindphase mit drei kleinen Kindern nicht leicht. Als dominant-initiativer Mensch 

(nach dem DISG-Modell) fiel es mir total schwer, ständig fremdbestimmt zu leben und kaum Freiräume zu haben. Damals versuchte ich, mir immer mal wieder kleine Fluchten zu suchen, einige Stunden Freiraum in der Woche, um mich Projekten zuzuwenden, die mich aufblühen ließen. Obwohl es bei uns finanziell sehr eng war, gaben wir Geld für einen Babysitter aus, so dass ich drei Stunden die Woche machen konnte, was ich wollte. Danach konnte ich mich wieder viel zufriedener meinen Kleinen zuwenden. 

Für viele Frauen stellt sich die Frage nach ihrer Berufung im Alter von 40 Jahren aufwärts noch einmal neu. Wer sich in Familie investiert hat, wächst in eine Phase mit neuen Freiheiten, wenn die Kinder größer sind. Wie geht man in diesem Alter, wo schon viele Lebensentscheidungen getroffen sind, mit der neu wach gewordenen Frage nach der eigenen Berufung um? 

Ja, es macht total Sinn in dieser Lebensphase nochmals „zehn Schritte zurückzutreten“ um sich zu fragen: Bin ich da, wo ich sein möchte? Möchte ich wirklich auf Dauer weiter das Lobpreisteam in der Gemeinde leiten oder im Kindergottesdienst mitarbeiten? Und: Wie passend war meine damalige Berufswahl? Würde ich das heute nochmals so wählen? Was löst die Vorstellung in mir aus, die nächsten 20-30 Jahre darin tätig zu sein? 

Wenn du bei der Vorstellung beginnst zu lächeln und zu sagen: Auf jeden Fall möchte ich das, bist du vermutlich genau am rechten Fleck. Wenn dir diese Vorstellung jedoch unerträglich erscheint und du einen tiefen Seufzer auslöst, solltest du diese Reaktion sehr ernst nehmen und das Thema „Meine Berufung neu suchen“ in den Blick nehmen. Es geht überhaupt nicht darum, ad hoc etwas zu verändern. Das geht oft gar nicht, muss doch die finanzielle Seite immer mitberücksichtigt werden. Wir alle müssen am Ende des Monats unsere Rechnungen bezahlen. Doch mittel- und langfristig ist es schon eine Frage der seelischen Gesundheit, um seine Tu-Berufung zu wissen und dem Raum zu geben. 

Nach langjähriger Tätigkeit als Krankenschwester hast du selbst noch einmal neu Ausschau gehalten, was in dir steckt und was Gott durch dich in diese Welt bringen möchte. Wie bist du dabei vorgegangen? 

Zunächst einmal musste ich mir mit Mitte 30 eingestehen, dass mein ursprünglicher Beruf der Krankenschwester von meinen Gaben und Fähigkeiten her nicht zu mir passte. Bei einem Gabentest zeigte sich mir, dass meine niedrigste Gabe die des Helfens war. Das hat mich schockiert. Einerseits. Doch andererseits bestärkte es meine Einsicht, dass dieser Beruf tatsächlich langfristig nicht meinem Sein und meinen Gaben entsprach. 

Ich begann mich selbst zu beobachten wohin es mich wie von selbst (intrinsisch) zog. Und was beobachtete ich? Wir lebten damals als Missionare in Nepal. Mit meinem Mann hielt ich Ehekurse in unserer Mission und der einheimischen Gemeinde. Egal, ob ich kochte oder mit den Kindern spielte, immer wieder schweiften meine Gedanken fast automatisch dorthin ab. Ich liebte es, einschlägige Literatur zu lesen, um das Thema zu vertiefen. Ebenso meldete ich mich umgehend freiwillig für die Aufgabe, neuankommende Missionare in das Leben in Nepal einzuweisen und sie im ersten Jahr zu coachen. Ich liebte diese Aufgabe und spürte immer wieder, wie mein Herz vor Freude hüpfte. Mir wurde klar: Das ist wohl die Spur, der ich folgen soll. Nach unserer Rückkehr aus Nepal begann ich mit einer ersten Beratungsausbildung. Die Ausbildungswochenenden waren genau die Oase, die ich als junge Mutter brauchte, um aufzutanken und dann wieder mit frohem Sinn bei den Kindern zu sein. 

Was würdest du anderen raten, wie sie ihrer persönlichen Berufung auf die Spur kommen können? 

Schau zunächst einmal, warum du deiner persönlichen Berufung auf die Spur kommen möchtest. Ich sage oft: Gott führt uns nicht über Druck, sondern über die Sehnsucht. Wenn du Druck verspürst und unter einem inneren Stöhnen denkst „Also meine Berufung, die sollte ich wohl auch noch finden“, dann leg das Thema einfach zur Seite. Dann ist es derzeit nicht für dich dran. Das Leben besteht aus viel mehr als aus dem Thema „Berufung“. Doch wenn du eine Herzenssehnsucht bei dem Thema Berufung verspürst – eine Zugkraft, die dich zieht, eine vage Hoffnung und Freude, dann gehe dem nach. Versuche den Fragen nachzugehen: Wann hüpft mein Herz? Wann fühle ich mich lebendig wie ein Fisch im Wasser? Bei welcher Tätigkeit? Und auch: In welchem Umfeld fühle ich mich lebendig? Ist es, wenn ich alleine im Büro arbeite oder ganz im Gegenteil, wenn ich unter einer Gruppe von Menschen tätig bin? Oder brauche ich beides? 

Und wenn ich diese Fragen nicht genau beantworten kann? 

Denke nicht zu viel kopfmäßig über die Fragen nach (meist dreht es sich dann im Kreis und ist nicht zielführend), sondern beobachte dich stattdessen aufmerksam, von Tag zu Tag. Am besten legst du dir ein Berufungs-Findungs-Buch an, in dem du mit Datum versehen deine Beobachtungen kurz notierst. 

Wenn du magst, nimmst du einen zweiten Beobachtungsfokus mit hinzu: Was ermüdet dich schnell? Was geht dir nicht gut von der Hand? Was macht dir so absolut keine Freude? In welchem Umfeld fühlst du dich unwohl oder schnell gestresst? Notiere auch das. 

Du wirst schnell eines merken: Du bist anders als die anderen. Keine ist wie du. Das wissen wir in der Theorie, doch in der Praxis fällt es vielen von uns schwer, uns zu unserer Einmaligkeit zu stellen. Wir wollen im tiefen Herzensgrund „normal“ sein, irgendwie wie die anderen. Doch die anderen gibt es schon zur Genüge, doch dich gibt es noch nicht. Dich gibt es nur das eine Mal. Wir brauchen große Tapferkeit, Mut und Vertrauen auf Jesus, dass wir ein Ja zu unserer Einmaligkeit haben und dem auch wirklich nachgehen. Wir alle oder zumindest sehr viele (mich eingeschlossen) haben sowohl eine „Werde-Sehnsucht“ als auch eine „Werde-Scheu“. Doch es ist der große Hirte Jesus, der uns ruft, ihm zu folgen und dieser Weg ist auch im Blick auf unsere Tu-Berufung letztlich einzigartig. 

Wenn wir nach unserer „Berufung“ suchen, wollen wir meist herausfinden, was unsere Aufgabe in dieser Welt ist. Ist das auch das, was die Bibel unter Berufung versteht? 

Mir kommt dazu gerade dieser Bibelvers in den Sinn, wo Gott zu Abraham sagte: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ (1. Mose 12,2). Ja, wir sind (auch) in dieser Welt, um ein Segen für die anderen zu sein. Und dieser Segen fließt vor allem durch unser „Sein“, wie Gott sich uns gedacht hat. Das beinhaltet für mich innere Heilung und Heiligung, so dass wir wieder werden, wie Gott uns gedacht hat und das beinhaltet auch, manche alte Prägung aus der Kindheit über Bord zu werfen, was alles andere als leicht und schnell getan ist, aber nötig. 

Und dann hat das „Sein“ mit unserem „Tun“ zu tun, dass wir die Werke tun, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln (Epheser 2,10), Und zwar als die, die ich bin, mit dem Tun, was zu mir passt und mir entspricht. 

Und natürlich, wie ich eingangs schon sagte: Wir sind in erster Linie zur Gemeinschaft mit Gott berufen. Wir sind berufen, Kinder Gottes zu sein und diesem Jesus von Nazareth nachzufolgen, Tag für Tag. Halleluja! Was für ein Abenteuer! 

Wozu sind wir von Gott her geschaffen? 

Darüber könnten wir nun lange sprechen … Hier nur kurz: Wir sind von Gott geschaffen, um in liebender Gemeinschaft mit ihm zu leben. Von Moment zu Moment. Gott ist eine liebende 

Gemeinschaft – Vater, Sohn und Heiliger Geist und wir dürfen uns einreihen in diesen Tanz der Liebenden. Und: Wir sind in Gottes Ebenbild geschaffen. Er hat als Schöpfer so viel Wunderbares geschaffen und wir sind auch so kleine SchöpferInnen: ein neues Lied, ein neues Rezept, eine neue JOYCE-Zeitschrift, eine Deko, eine Strategie für die Firma, was auch immer … dürfen wir in diese Welt bringen. 

Wenn wir das erleben wird es still in uns und wir staunen und spüren große Freude. 

Die Fragen stellte Melanie Carstens 

Der Weg ins Leben geht jedoch in eine andere Richtung. Nämlich ins Innehalten und Nicht-Reagieren. Wir dürfen uns bewusstmachen, dass es jetzt gerade nicht um meinen Wert als Mutter oder Vater geht, um meinen Erfolg oder mein Versagen, sondern um mein Kind. Wir dürfen uns vor Augen malen, dass das keine Katastrophe, sondern im Gegenteil eine „Sternstunde“ ist, eine Zeit, die ein tiefes Geschenk an unser Kind werden kann.

Warum ist das so? Wir können unserem Kind bei etwas ganz Kostbarem helfen, nämlich sich selbst mit seinen inneren Nöten ernst zu nehmen und eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen. Dafür müssen wir diese „Anklage“ stehen lassen. Wenn wir dem Kind zuhören, anteilnehmend und ohne innere Abwehr, „validieren“ wir das Kind. Wir sagen damit: „Mein Kind: Du hast das richtig gespürt! Du darfst dir und deinen Empfindungen vertrauen. Ich stelle dein Gefühl, dein Erleben nicht infrage. Das, was du sagst, hat seine Berechtigung.“ Die eigenen inneren Impulse wahrnehmen und ihnen vertrauen – was für ein Geschenk für das Leben ist das doch! Viele von uns brauchen lange Therapien, um sich in dieser Weise auf die Spur zu kommen.
Und ein zweites Geschenk machen wir dem Kind: Wir unterstützen es, seine eigene Biographie einzuordnen und zu verarbeiten. Wie kostbar ist es, die eigene Geschichte nicht nur mit einem Therapeuten zu klären und zu verarbeiten, sondern mit den eigenen Eltern. Wer von uns konnte das mit seinen eigenen Eltern so tun? Als Beraterin weiß ich, dass es erwachsenen Kindern oft nicht möglich ist, mit ihren Eltern ein klärendes Gespräch über ihre Beziehung und über Verletzungen zu führen. Deshalb ist es wunderbar, wenn unsere Kinder mit uns zusammen auf ihre Verletzungsgeschichte schauen, auch wenn das für uns Eltern zunächst nicht einfach ist.

Sternstunde für die Beziehung
Und so nehmen Sie am besten bei einem entsprechenden Gespräch den emotionalen Impuls „Flucht oder Angriff“ wahr und lassen ihn auch wieder los. Atmen Sie ein und aus und versuchen, so wenig wie möglich der Panik Raum zu geben. Vergewissern Sie sich der Liebe Gottes, der uns auch dann liebt, wenn Erziehungsdefizite aufgedeckt werden. Und dann versuchen Sie, soweit es möglich ist, emotional an der Seite Ihres Kindes zu sein. Es geht jetzt in erster Linie um Ihr Kind. Vielleicht möchten Sie noch ein kurzes Stoßgebet gen Himmel senden: „Herr hilf mir!“, bevor Sie sinngemäß folgende Worte sagen: „Danke, dass du das sagst. Das berührt mich sehr. Bitte erzähl mir mehr: Was genau hat dich so verletzt? Wie bist du damit umgegangen?“
Halten Sie sich während des Gesprächs vor Augen, dass diese Zeit eine Sternstunde für Ihre Beziehung und für Ihr Kind werden kann. Allein das Ansprechen einer solchen Not ist ein Kennzeichen von tiefem Vertrauen. Wenn mein Kind mir mitteilt, was ihm früher Not gemacht hat, zeigt sich ja gerade keine Ablehnung und Verurteilung, sondern großes Vertrauen. Solche Worte werden nur ausgesprochen, wenn bei dem Kind die Zuversicht vorhanden ist, dass mit solchen Herzens-Mitteilungen gut umgegangen wird.
Versuchen Sie genau zuzuhören und wahrzunehmen, was Ihr Kind heute bewegt und was es wohl damals erlebt oder erlitten hat. Wenn Sie „ganz Ohr“ sind, wird sich bei Ihnen eine Betroffenheit für das Kind einstellen und die dürfen Sie auch authentisch aussprechen: „Da hast du dich ja total überfordert/abgelehnt, nicht ernst genommen/nicht beschützt … gefühlt.“ Und dann können Sie auch formulieren: „Es tut mir so leid, dass du an dieser Stelle gelitten hast!“

Nun kann Raum sein für Tränen und Stille und vielleicht auch eine Umarmung. Versuchen Sie, die dichte Atmosphäre, die sich nun einstellt, auszuhalten. Das fällt uns in der Regel schwer und wir sind in Gefahr, uns in viele Worte zu flüchten. Doch Worte bringen uns und das Kind wieder weg von unseren tiefen Gefühlen. Vermeiden Sie in dieser Situation jedwede Erklärungen, so schwer es Ihnen fällt. Zum jetzigen Zeitpunkt sind Erklärungen störend und zutiefst egozentrisch. Wir sind dann nicht an der Seite des Kindes, sondern bei der Verteidigung unseres Selbstwertes.
Vermeiden Sie auch das Abrutschen in die Opferrolle. Vielleicht gab es gute Gründe für Ihr Verhalten damals. Und natürlich hat Ihr Kind gerade gar nicht im Blick, wie schwer es vielleicht war als alleinerziehende Mutter oder überforderter Vater oder weil die Kinder so schnell hintereinanderkamen oder es der Firma wirtschaftlich so schlecht ging … Unsere Klärung des Erlebten gehört nicht in das Gespräch mit unserem erwachsenen Kind, dass sich gerade mal traut zu sagen, woran es in der eigenen Kindheit gelitten hat.
Stattdessen können Sie fragen: „Gibt es sonst noch etwas, das dich belastet?“ Vielleicht passt es, zwischendrin auszusprechen: „Ich weiß, du hast mich lieb und ich habe dich auch lieb. Gerade deshalb ist es gut und richtig, dass wir jetzt darüber sprechen.“ Wenn es Teil der Familienkultur ist, miteinander zu beten, kann es hilfreich sein, das zu tun.

Nachsorge für die Eltern
Nach solchen Gesprächen fühlte ich mich erschöpft und betroffen. Ich war auf so vielen Ebenen emotional involviert. Ich brauchte nun Zeit und manchmal auch andere Menschen, dir mir halfen, das Erlebte zu verarbeiten. Für die eigene Nachsorge von solchen Gesprächen sind mir folgende Grundsätze wichtig geworden:
1. Es gibt keine perfekte Erziehung, und die braucht es auch nicht geben. Ich habe in meinem Leben Jesus als denjenigen erlebt, mit dem ich meine Belastungen aufarbeiten kann. Auch für meine Kinder ist Jesus der Heiland, der Heilende. Auch sie werden Bereiche haben, in denen sie die Heilung durch Jesus brauchen. Ich habe mein Bestes gegeben, und dennoch habe ich an der ein oder anderen Stelle meine Kinder verletzt und bin an ihnen schuldig geworden. Das ist so, und das muss ich nicht mehr bekämpfen, sondern ich kann lernen, es gelassen anzunehmen.
2. Ich darf nach solchen Gesprächen in aller Ruhe hinschauen, welche Zusammenhänge, Ursachen und Gründe ich erkenne. Und doch muss ich es nicht in der Tiefe ergründen und mich darin festbeißen. Es war so, wie es war. Das kann ich nicht mehr ändern, und ich muss es auch nicht versuchen. In einem solchen Gespräch mit einem unserer Kinder kam zutage, dass ich zu lange darauf gedrängt hatte, dass es Musikunterricht haben muss. Das Kind hatte gar keine Freude daran und hasste zunehmend den Klavier- und Flötenunterricht. Wie kam es dazu, dass ich mit einem solchen Eifer meine Kinder dazu drängte, Musikinstrumente zu spielen? Letztlich stand mein Vater dahinter, hochmusikalisch und lange Jahre Chorleiter seiner Gemeinde. Natürlich habe ich als Kind mehrere Musikinstrumente lernen müssen. Und so schien es für mich zu meinem Erziehungsauftrag zu gehören, dass alle meine Kinder mindestens ein Musikinstrument lernen müssen. Es gehört dazu, Klavier oder Geige oder Cello zu spielen, dachte ich. Erst nach mehreren Jahren konnte ich mir eingestehen, dass dieses eine Kind zwar Freude an Sport und Tanzen hatte, nicht jedoch an Musik mit dem Spielen nach Noten.
3. Ich muss vor Gott und mir und dem Kind keine Schuld bekennen, die ich nicht als Schuld ansehe. Manchmal bleiben verschiedene Sichtweisen nebeneinander stehen. Und das darf sein. Die Frage nach der einzig richtigen Wahrheit führt manchmal nicht weiter. Vielleicht müssen wir uns auch ehrlich eingestehen: Wir hätten es an dieser Stelle auch nicht „besser“ machen können. Bei aller Umsichtigkeit als Eltern werden wir es nicht schaffen, unsere Kinder umfassend vor tiefem Leid zu schützen.
4. Unser Selbstbild darf sich vom Perfektionismus verabschieden. Für mich war es letztlich ein Schritt ins Leben und in die Befreiung zu denken und zu sagen: „Ich war eine mich bemühende Mutter.“ Vieles habe ich mit Gottes Hilfe gut gemacht. Und ich habe Fehler gemacht, die mir heute leidtun. Ich habe meine Kinder mit manchen meiner eigenen Macken belastet. So ist das Leben und so darf es sein. Ich darf mich nach solch klärenden Gesprächen über die Vergangenheit dem aktuellen Leben zuwenden und mit Gottes Hilfe die heutige Beziehung zu den Kindern liebevoll gestalten.